Oh nein! Indien!?
Immer mehr Unternehmen erkennen die vielfältigen Vorteile des Offshorings und suchen nach Möglichkeiten, diese gewinnbringend für ihr Unternehmen zu nutzen. Ein beliebtes Ziel für das IT-Offshoring ist Indien, das sich zu einer Hochburg entwickelt hat. Doch was genau bedeutet es, wenn wichtige Teile eines Projekts im Ausland erledigt werden?
«Kannst du diese Arbeit bitte bis nächsten Dienstag fertig stellen?», fragt Andreas K. sein indisches Teammitglied. «Yes, no problem», antwortet der indische Kollege – ein junger Ingenieur mit erstklassigen Referenzen. Andreas K. ist zufrieden. Zwei Tage nach dem vereinbarten Termin wundert sich der Projektleiter allerdings, dass sein indischer Kollege weder die fertige Arbeit noch eine Verspätungsmeldung geschickt hat. Andreas K. fragt freundlich nach. Der Inder deutet an, dass es kein Problem gebe und erklärt, dass sein Chef auf Geschäftsreise sei. Der Projektleiter ist verdutzt und verärgert, verkneift sich jedoch eine Schelte und sagt nur: „Ok, kein Problem“, bevor er auflegt.
Natürlich ist Andreas K. frustriert. Er ist davon ausgegangen, dass sein indisches Teammitglied sich sofort melden würde, wenn es irgendwo ein Problem gibt. Solche kulturellen Unterschiede sind einer der Hauptgründe, warum Outsourcing-Projekte im Ausland scheitern. Insbesondere in Indien ist es beispielsweise unüblich, Probleme direkt anzusprechen. Wenn es hart auf hart kommt, neigt man in Indien dazu zu sagen: „Yes, no problem, Sir.“ Konflikten wird ausgewichen.
In unserem Kulturkreis ist es dagegen möglich, Ablehnung mit einem klaren „Nein“ zum Ausdruck zu bringen, ohne dass dies als unhöflich gilt. Wir lieben den Diskurs, ringen um Standpunkte und lehnen den einen oder anderen ab, ohne die Person, die diesen vorbringt, abzulehnen. Dieses Vorgehen ist jedoch in Indien fehl am Platz.
Immer mehr Unternehmen entscheiden sich dazu, ihre wichtige Teile Ihrer IT-Projekte nach Asien zu vergeben. Leider scheitern sehr viele dieser Projekte. Grund sind oftmals die geringen Kenntnisse der Projektleiter über die Gegebenheiten im Outsourcing, speziell über das Outsourcing nach Indien.


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Viele Projektleiterinnen und Projektleiter lernen bereits während ihrer Ausbildung, dass Indien eine der größten Softwareindustrien der Welt beherbergt. Auch wer in großen Unternehmen gearbeitet hat, weiß, dass Entwicklerleistungen teilweise oder vollständig aus Indien bezogen werden. Daher ist es naheliegend, sich bei eigenen Projektvorhaben in diese Richtung zu orientieren. Plattformen wie Twago oder Odesk ermöglichen es heutzutage auch kleineren Unternehmen, Aufträge ins ferne Ausland zu vergeben und dadurch Kosten zu sparen.
Offshoring-Projekte bieten natürlich erhebliche Kostenvorteile. Die Lohnkosten in Asien sind deutlich niedriger, obwohl sich dies in den letzten Jahren – zumindest in Bezug auf Indien – relativiert hat. Allerdings können die Kostenvorteile schnell zunichte gemacht werden, wenn man nicht aufpasst, da Sprachunterschiede und kulturelle Differenzen die Komplexität von Entwicklungsprojekten erheblich erhöhen. Dies wirkt sich auch immer auf das Ergebnis aus.
Beispiel 1
Ein Mitarbeiter unseres indischen Offshore-Partners hat zugesichert, eine Aufgabe bis zu einem bestimmten Termin abzuschließen. Allerdings wurde die Aufgabe erst zu einem späteren Zeitpunkt ohne Rücksprache mit uns erledigt.
Hierbei handelt es sich wahrscheinlich nicht um einen nachlässigen Mitarbeiter, sondern um kulturelle Unterschiede, mit denen wir zu kämpfen haben. In asiatischen Kulturen spielt Zeit oft keine so große Rolle. Selbst wenn man keine asiatische Sprache beherrscht, hat man vielleicht schon mal gehört, dass viele asiatische Sprachen nicht einmal Zeitformen haben. Die Vergangenheits- oder Zukunftsformen werden nur durch Nuancen im Schreiben und Sprechen erkennbar. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es in Offshoring-Projekten schnell zu Spannungen kommt, wenn es um die Einhaltung von Terminen geht.
Beispiel 2
Die Mitarbeiter unseres indischen Offshore-Partners haben ein Produkt geliefert, das beim Testen nur teilweise den ursprünglichen Anforderungen entspricht. Unsere Beschwerde fällt entsprechend heftig aus, da wir vermuten, dass in Indien schlampig gearbeitet wurde. Doch in der Regel steckt kein mangelndes Qualitätsbewusstsein dahinter. Es könnte sein, dass die indischen Mitarbeiter bei den Erläuterungen des Arbeitsauftrags den Eindruck erweckt haben, alles verstanden zu haben, um ihr Gesicht nicht zu verlieren. Deshalb werden Verständnisfragen – wie sie bei uns üblich sind – erst gar nicht gestellt. Wir sollen nämlich nicht denken, dass unsere indischen Mitarbeiter ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind. Wir interpretieren deren Verhalten so, als wären alle Fragen geklärt. Kein Wunder also, dass irgendwann Qualitätsprobleme auftreten.
Beispiel 3
In unserem Projekt haben wir festgestellt, dass es Probleme in einem bestimmten Bereich gibt, die von unserem Offshore-Partner in Indien verursacht werden. Obwohl die Probleme bekannt sind und verstanden zu sein scheinen, passiert nichts. Wir können dieses Verhalten aufgrund unserer westlichen Denkweise nicht verstehen und vermuten fehlendes Verantwortungsbewusstsein oder sogar Sabotage. Allerdings müssen wir berücksichtigen, dass unsere indischen Mitarbeiter aus Respekt vor ihren Vorgesetzten keine Fehler offenlegen würden, selbst wenn sie bekannt sind. Im schlimmsten Fall verteidigt das Team die Arbeit seines Vorgesetzten, obwohl die Ursachen der Probleme eindeutig bekannt sind.
Beispiel 4
Normalerweise arbeiten wir in Projekten vor Ort mit Partnern und Subunternehmen zusammen, aber bei einem Offshore-Projekt stellen wir plötzlich fest, dass unser Offshore-Partner sich ganz anders verhält als unsere lokalen Partner. Die Erwartung, dass ein Offshore-Partner genauso funktioniert wie ein lokales Unternehmen, führt oft zum Scheitern von Offshoring-Projekten. Wir müssen uns auf die Strukturen und Prozesse unseres Offshore-Partners einstellen, auch wenn sie kulturell bedingt sind. In Indien müssen beispielsweise Lastenhefte und Pflichtenhefte präziser formuliert werden, was für unsere Mitarbeiter hierzulande eine echte Herausforderung darstellt.
Wer Offshore-IT-Projekte umsetzen möchte, darf keine unrealistischen Erwartungen haben. Wichtig ist es, die richtigen Problemstellungen auszulagern und Willens zu sein, auch die eigenen Prozesse für eine gute Zusammenarbeit zu verändern.
Survival-Tipps
- Sorge für eine sorgfältige Beschreibung und Visualisierung der Anforderungen – das ist in einem Offshoring-Projekt unerlässlich.
- Denke daran, dass kulturelle Unterschiede oder sprachlich bedingte unterschiedliche Auffassungen schnell zu Missverständnissen führen können. Deshalb ist auch die Visualisierung von Anforderungen unglaublich wichtig.
- Stecke viel Zeit und Energie in die Aufwandsschätzung und berücksichtige einen Puffer, falls es im Projektverlauf doch zu Abweichungen kommt.
- Behandele Deinen Offshoring-Partner im Ausland nicht wie einen Handlanger, sondern sieh in ihm einen strategischen Partner. Nur so kommen wirklich gute Projektergebnisse zustande.
- Bereite Dein Projektteam gut darauf vor, dass es kulturelle Unterschiede gibt. Nur so lassen sich kulturelle Missverständnisse abschwächen bzw. vermeiden.


Mario Neumann
Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.