Well Team Times Nr. 290

Umgang mit inneren Grenzen

Von am 30.01.2025

Das Ausloten der eigenen inneren Grenzen ist ein wichtiger Schritt zur Selbstbehauptung und zur persönlicher Freiheit. Wo liegen sie, wann schützen sie uns und wie können wir sie erweitern?
Vielen Menschen fällt es schwer, eine klare Grenze zu ziehen, wenn es ihnen zu viel wird, wenn sie keine Kraft, Zeit oder einfach keine Lust mehr haben. Persönliche Grenzen sind wichtig, um die eigenen Bedürfnisse zu achten, der Selbstausbeutung vorzubeugen und die innere Balance aufrechtzuerhalten.

  • Wir alle kommen immer wieder an unsere inneren Grenzen. Wir überschreiten sie oder andere tun das, auch wenn wir das nicht wollen.
  • Oder wir bleiben weit hinter diesen Grenzen, obwohl wir wissen, dass es uns eigentlich guttun würde, uns einmal darüber hinaus zu wagen.

Einen positiven und ausgewogenen Umgang mit den inneren Grenzen zu erlangen, ist nicht leicht. Und die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen machen diese Aufgabe noch schwieriger: Wir erleben immer mehr soziale und körperliche Distanz und gleichzeitig sollen wir ständig für den Beruf verfügbar sein. Wie können wir herausfinden, wo unsere innere Grenze liegt?
Ab wann vernachlässigen wir unsere eigenen Bedürfnisse und tun uns selbst keinen Gefallen? Wann ist unsere persönliche Grenze erreicht, an der wir Gefahr laufen, in der Selbstausbeutung zu landen? Und wann täte es uns gut, unsere inneren Grenzen zu erweitern?

Die unterschiedlichen Funktionen von Grenzen

Es wird oft zwischen guten und schlechten Grenzen unterschieden. Gute Grenzen erleichtern das Leben. So ist z.B. eine Grenze zum Nachbarn sicher gut und gewollt, während eine Mauer zwischen zwei Ländern für viele Bewohner schlecht sein könnte. Eine Grenze wird dann zu einer schlechten, wenn sie die freie Entfaltung stärker behindert, als es notwendig und sinnvoll ist. Grenzen können ganz unterschiedliche Funktionen haben:

  • Grenzen erzeugen und ermöglichen Identität. Erst ein Aufteilen unserer Welt innerhalb gesetzter Grenzen ermöglicht überhaupt ein friedliches Zusammenleben von Familien, Gemeinschaften und Nationen. In diesem festgesetzten und geschützten Gebiet kann Raum für die Entwicklung von Kultur, Struktur und Zugehörigkeit entstehen.
  • Grenzen schützen uns. Schon die eigene Haut grenzt unseren Körper gegen die Umwelt ab. Unser Immunsystem sorgt dafür, dass Wunden schnell geschlossen werden. Hauswände schützen uns vor Einbrechern und Kälte. Persönliche Grenzen schützen uns vor Enttäuschung und Vertrauensmissbrauch.
  • Grenzen ermöglichen auch Begegnung und Verbindung. Wer einem anderen Menschen begegnen will, braucht stabile Grenzen, braucht ein Gefühl der eigenen Identität. Damit Grenzen sich in der Begegnung auflösen können, muss erst einmal eine Grenze klar sein. Und an der Grenze kann intensiver Kontakt entstehen. Zwei Nebelfelder können sich nicht begegnen. Sie können im besten Fall aufeinander zubrodeln, aber ein wirklicher Kontakt ist schwer herzustellen.

Foto: Matjaz Slanic auf istockphoto

In der Kindheit lernen wir, Grenzen auszuloten und zu akzeptieren

Indem Eltern Grenzen setzen, erfahren wir als Kinder, was von uns erwartet wird und erlangen Sicherheit und Orientierung. Doch genauso wichtig für die Entwicklung einer stabilen, reifen Persönlichkeit sind Freiräume.

Ein Kind muss soziale Kompetenzen im Umgang mit anderen Menschen erwerben, genauso wie seine eigenen Fähigkeiten erproben. Es muss lernen sich abzugrenzen, aber sich auch in soziale Beziehungen zu integrieren. Ohne genug Freiräume ist das nicht möglich. Wenn Eltern zu viele Verbote aussprechen, das Kind kaum etwas darf, wird es sich nicht angenommen fühlen. Das Selbstwertgefühl und die Selbstwahrnehmung leiden und das vermehrt seine Ängste.
Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Kinder sehr strenger Eltern häufiger Angststörungen, Trennungsängste oder soziale Angst entwickeln. Keine einfache Aufgabe für Eltern, sie müssen dem Kind oder Jugendlichen bestimmte Grenzen setzen, aber zugleich auch sein Autonomiestreben fördern. Auch wenn das Kind auf dem Weg zur Autonomie elterliche Grenzen sprengt, wird es dennoch geliebt. Nur wenn das Kind weiß, dass es so, wie es ist, gut ist, kann es eine gesunde emotionale Entwicklung nehmen und als Erwachsener eigene Grenzen ziehen – ohne Schuldgefühle oder Verlustängste.

Die andere Seite der Medaille ist, auch die Grenzen der anderen zu erkennen und zu respektieren. Ohne die Fähigkeit zu Kompromissbereitschaft und Rücksichtnahme bleibt die soziale Kompetenz zurück. Da macht ein egoistischer Erwachsener seiner Umwelt das Leben schwer.

  • Die richtige Balance zwischen der Förderung des Autonomiestrebens und dem Ziehen von Grenzen ist ausschlaggebend für die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit.

Zu wenig Abgrenzung?

Wer als Kind nicht gelernt hat, sich abzugrenzen, wird sich auch als erwachsener Mensch schwertun, sich gegen Ausnutzung, Überforderung und Anpassungsdruck zur Wehr zu setzen. Sei es im Berufsleben oder in Freundschaften und Beziehungen, die Menschen um uns merken schnell, wenn wir nicht nein sagen können – und machen sich unser Verhalten für ihre eigenen Zwecke zunutze. Bei Sätzen wie „Sie kriegen das schon hin!“, „Auf Sie ist doch immer Verlass!“ oder „Lass mich bitte nicht im Stich!“ sollten wir hellhörig werden. Haben wir dazu überhaupt Lust? Oder Zeit? Oder hatten wir ganz andere Pläne? Fühlen wir uns bedrängt und ausgenutzt? Oft sagen wir dann trotz mulmiger Gefühle doch ja und tappen in die Falle.
Wir geben unser Bestes, machen ungewollte Überstunden, übernehmen Aufgaben, die sonst keiner machen will, und wofür? Um unangenehmen Konfrontationen aus dem Weg zu gehen oder die Dankbarkeit und Anerkennung unseres Gegenübers zu erlangen? Das mag kurzfristig befriedigend sein, langfristig sind solche Grenzverletzungen aber nicht gut für uns. Denn auf Dauer können durch Grenzüberschreitungen und eine zu geringe Selbstfürsorge psychische Probleme und Störungen entstehen. Stress, Süchte, Ängsste, Depressionen und Burnout gelten als typische Auswirkungen, wenn emotionale Grenzen gestört und nicht im Gleichgewicht sind.

Wenn Überforderung und das Gefühl ausgenutzt zu werden überhandnehmen, gibt es zwei Wege, mit der Situation umzugehen.

  • Einerseits der komplette Rückzug, die selbst herbeigeführte Isolation, die einen zwar vor Verletzungen schützt, aber auch ein Weg in die Einsamkeit ist.
  • Andererseits die permanente Unterdrückung von Wut und Ärger, das In-sich-Hineinfressen unguter Gefühle, das sich dann oft in unkontrollierten Emotionen entlädt, die mehr schaden als bereinigen.

Grenzen zu ziehen, können wir lernen – in jedem Alter

Auch wenn wir keine optimalen Voraussetzungen in der Kindheit entwickelt haben, können wir in jeder Phase unseres Lebens lernen, unsere Grenzen zu erkennen und zu setzen. Das ist weder egoistisch noch asozial, sondern wichtig für unser Wohlbefinden und unsere sozialen Kontakte. Denn wir können nur echte Hilfe leisten und auf die Sorgen und Probleme anderer Menschen eingehen, wenn wir psychisch stabil, bei uns selbst sind und genau wissen, wo unsere Grenzen liegen. Wenn wir uns nicht abgrenzen, wenn uns die innere Distanz fehlt, lassen wir uns zu sehr in den Problemstrudel der anderen hineinziehen und sind keine guten Helfer mehr.

Höre in dich hinein und mach dir deine Bedürfnisse bewusst
Übe, deine Grenzen zu verschieben und zu überschreiten
Stärke dein Selbstwertgefühl

Vgl. Maja Günther, Link: Wie du auf positive Weise mit deinen inneren Grenzen umgehst

Mario Neumann

Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.