Strategie

Tabuthema Minderleistung

Von am 09.10.2025

Ich stelle Menschen gerne Fragen, weil mich ihre Arbeit, ihre Strategien, ihre Standpunkte oder ihre Thesen interessieren. Für meine Kolumne NACHGEFRAGT habe ich das Gespräch mit Reinhold Haller  gesucht. Der Erziehungswissenschaftler und Fachbuchautor beleuchtet in seinem neuesten Buch Ursachen und Ausprägungen von Minderleistungen. Ich habe bei Reinhold Haller nachgefragt, warum Minderleistung immer noch ein Tabuthema ist.

Mario: Lieber Herr Haller, bekanntlich bezeichnet der aus dem polynesischen Sprachraum stammende Begriff »Tabu« ein Thema, das kulturspezifisch geächtet und damit der näheren Erörterung oder Debatte entzogen ist. Gilt das auch für das Problem Minderleistung in Unternehmen?

Reinhold Haller: Ja. Es erinnert an die bekannte japanische Metapher der drei Affen, welche lautet: »Nichts (Böses) sehen, nichts (Böses) hören, nichts (Böses) sagen.« So häufig sich das Thema Minderleistung im Fokus von Studien zur Motivation der Mitarbeitenden wiederfindet, so selten wird es in den meisten Organisationen und Unternehmen offen erörtert. Nach meiner Erfahrung gibt es für das kollektive Schweigen tatsächlich eine Reihe von ebenso plausiblen wie bedauernswerten Gründen.

Mario: Welcher Grund steht für Sie an erster Stelle?

Reinhold Haller: Führungskräfte sprechen nicht gerne offen über ihre leistungsschwachen Mitarbeitenden. Hierdurch könnte schließlich bei Kollegen, Vorgesetzten und Mitarbeitenden der Personalabteilung der Eindruck aufkommen, man wäre als Führungskraft mit seiner Führungsaufgabe überfordert und habe seine Leute umgangssprachlich »nicht im Griff«.

Mario: Welche weiteren Gründe gibt es für dieses Schweigen?

Reinhold Haller: Es gibt eine Wahrnehmungsblockade bei Führungskräften. Ursache dafür ist schlichte Ausblendung durch Verdrängung, die unter anderem auch damit begründet ist, dass viele Führungskräfte – würden sie das Problem bewusst wahrnehmen und sich ihm stellen – einfach nicht wissen, was sie dazu denken, sagen und tun sollten. Mit schwierigen Situationen im Führungskontext umzugehen, haben schließlich die wenigsten Führungskräfte systematisch gelernt. Woher auch? Drei bis fünf oder mehr Jahre ihrer beruflichen Ausbildung stehen meist nur einige Tage oder maximal ein bis zwei Wochen gegenüber, an denen sie – wenn überhaupt – mehr oder weniger gründlich zur Führungskraft weitergebildet wurden.

Mario: Auch Kollegen sprechen in der Regel nicht offen über die mangelnde oder ausbleibende Leistung anderer Teammitglieder. Warum ist das ein Problem?

Reinhold Haller: Kollegen möchten andere Teammitglieder nicht anschwärzen und bloßstellen, unter anderem weil sie fürchten, ihrerseits dann des Mobbings beschuldigt zu werden. Stattdessen wird die Unzufriedenheit hinter vorgehaltener Hand vorgebracht und/oder mit nonverbalen Unmutsbezeugungen kommentiert.

Reinhold Haller arbeitet im eigenen Institut für Beratung, Coaching, Training und Teamentwicklung. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaft und Psychologie an der Freien Universität Berlin war er dort über elf Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter, später dann in gleicher Funktion an der Humboldt Universität in Berlin tätig. Vor seinem Weg in die Selbständigkeit war er Leiter der Personalentwicklung beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln. Seit Anfang 2000 ist Haller Eigentümer und Betreiber des Beratungsunternehmens rh:hr Human Resources mit Sitz in Potsdam.

Mario: Und wie reagieren Personalabteilungen darauf, wenn das Thema Minderleistung aufkommt?

Reinhold Haller: Personalabteilungen sind tendenziell eher zurückhaltend. Die Zurückhaltung hat spezifische, teils sich überlagernde Gründe. Viele Personalabteilungen reagieren im Einzelfall deshalb nicht, weil ihnen Probleme mit minderleistenden Mitarbeitenden schlicht nicht bekannt geworden sind. Andere Personalabteilungen reagieren eher zögerlich, weil sie der Auffassung sind, dass die dezentral zuständige Führungskraft vor Ort die ihnen anvertrauten Mitarbeitenden operativ zu führen hat und nicht etwa die zentral operierende Personalabteilung.

Mario: Wie steht es denn um die rechtlichen Implikationen?

Reinhold Haller: In manchen Personalabteilungen wird mit juristischem Tunnelblick primär auf die rechtliche Situation geachtet. Sie wissen, wie aufwendig arbeitsrechtliche Maßnahmen sind, und dass es viel zu verlieren gibt, auch was ihr Image als erfolgreiche Lösungsinstanz betrifft. Ein oder zwei verlorene Arbeitsrechtsverfahren können aus einer allseits respektierten Personalabteilung einen zahnlosen Tiger machen.

Mario: Welche weiteren Akteure beeinflussen das Thema Minderleistung?

Reinhold Haller: Personal- und Betriebsräte fühlen sich zu Recht als Interessenvertreter der Belegschaft. Sie kennen Fälle, in denen Mitarbeitende vor überzogenen Erwartungen geschützt werden mussten und sehen häufig mit einem Tunnelblick auf die methodischen und sozialen Kompetenzdefizite mancher Führungskräfte als primärer Ursache vieler Konflikte rund um Motivation, Engagement und Leistung. Dass einzelne Mitarbeitende jedoch deren Teamkollegen belasten, wird in manchen Mitarbeitendenvertretungen weniger wahrgenommen; die klagenden Betroffenen bleiben oft still.

Mario: Welche Folge hat diese Tabuisierung insgesamt?

Reinhold Haller: Die Folge ist eine verhängnisvolle Praxis, in der implizit über alle Organisationsebenen vermittelt wird:

  • Über Minderleistung spricht man bei uns nicht offen – das Arbeitsrecht ist diffus bzw. arbeitnehmerfixiert, man kann da ohnehin nichts machen.
  • Wenn jemand im Team ausfällt, müssen andere den Ausfall stillschweigend kompensieren. Über Performance-Einbrüche spricht man nicht.
  • Mitarbeitende mit eingeschränktem Leistungsprofil bleiben von Nachfragen verschont. Damit bleibt auch willkürlicher Leistungsrückzug anonym und ohne Reaktionen.

Mario: Woher stammen diese Botschaften?

Reinhold Haller: Die Ursache liegt im ersten Axiom der Thesen von Paul Watzlawick zur menschlichen Kommunikation: »Man kann nicht nicht kommunizieren.« Implizite Botschaften – insbesondere in sozialen Gefügen wie Unternehmen – sind oft stärker verankert als explizite Stellungnahmen. Wer konsequent zu etwas schweigt, vermittelt durch dieses Schweigen nachhaltige, oft ungewollte Botschaften, die falsch interpretiert werden können und kontraproduktiv wirken.

Mario: Im Zusammenhang mit dem Phänomen Minderleistung wird häufig impliziert, dass es sich um ein Täter-Opfer-Konstrukt handele. Wie sehen Sie diese Sichtweise, und warum halten Sie sie für problematisch?

Reinhold Haller: Da gibt es die leistungsschwachen, pflichtvergessenen, sich verweigernden Mitarbeitenden und dort die in Mitleidenschaft gezogenen, hilflosen Führungskräfte, Personaler und Kollegen oder das um die Arbeitsleistung betrogene Unternehmen. Wie die meisten Täter-Opfer-Modelle ist diese generelle und einseitige Sichtweise absurd. Das gilt auch für den Umkehrschluss, dass Minderleistung ausschließlich demotivierenden Führungskräften, unfähigen Personalabteilungen oder Personal- und Betriebsräten zuzuschreiben sei, die Lösungen im Umfeld von Minderleistung blockieren würden.

Mario: Welche Rolle spielen Leistungsanreize und -blockaden in diesem Kontext?

Reinhold Haller: Es gibt durchaus erklärbare Gründe, warum Mitarbeitende wider Willen daran gehindert sind, eine gute Leistung zu erbringen. Schließlich will nahezu jeder an Körper und Geist „gesunde“ oder zumindest arbeitsfähige Menschen mit einer basalen sozialen Grundhaltung Leistung erbringen. Leistung ist kein Selbstzweck oder altruistische Ertüchtigung, sondern Grundlage für Wertschätzung, Selbstbewusstsein, soziale Anerkennung und Wohlstand. Anhand dieser Leistungsanreize ist davon auszugehen, dass den meisten Menschen daran gelegen sein dürfte, an den mit Leistung verbundenen Vorzügen zu partizipieren.

Mario: Und welche anderen Gründe können einer persönlichen Gewinnmaximierung im Wege stehen?

Reinhold Haller: Es gibt verschiedene Gründe, die einer solchen Gewinnmaximierung im Wege stehen können: mangelnde Eignung, körperliche und psychische Erkrankungen sowie negative Einstellungen. Natürlich sind diese Gründe untereinander nicht wirklich trennscharf. Schließlich gibt es Erkrankungen, die langfristig innere Haltungen verändern. Umgekehrt führen manche inneren Haltungen und Grundüberzeugungen langfristig zu echten oder vorgetäuschten Erkrankungen. Und es existieren psychosomatische Erkrankungen mit körperlichen und seelischen Wechselwirkungen. Dennoch ist diese Differenzierung ein einfaches Mittel, um Ordnung zu bringen in die Komplexität des Themas Minderleistung, um mögliche Handlungsansätze zu identifizieren.

Mario: Welche Schlussfolgerung ziehen Sie daraus?

Reinhold Haller: Wir haben zuvor darauf hingewiesen, dass ein gewisses Grundbedürfnis nach Erfolgserlebnissen, sozialer Anerkennung, Wertschätzung etc. als normal oder „gesund“ vorausgesetzt werden kann. Im Umkehrschluss zeigt sich, wie sich die persönliche Situation am Arbeitsplatz darstellen muss, wenn solche Motivationsfaktoren verwehrt bleiben.

Mario: Beschreiben Sie ein konkretes Fallbeispiel, das den Problemfaktor Minderleistung illustriert.

Reinhold Haller: Frau Müller, 50-jährige Sachbearbeiterin in einem Versicherungsunternehmen, hatte nach ihrer Scheidung einen persönlichen Einbruch, zumal kurz darauf auch ihre Mutter verstarb. Trotz Krisenintervention und einer Kurzzeit-Psychotherapie hat sie nach diesen Ereignissen nicht wieder zu ihrer alten Form zurückgefunden – weder im privaten Umfeld noch im Arbeitsbereich. Frau Müller hat öfter depressive Phasen, fühlt sich antriebsschwach und ermüdet schnell. Obwohl beide Ereignisse nun bereits drei Jahre zurückliegen, hat sich hieran nichts Wesentliches geändert.

Mario: Welche Folgen hatte das im Arbeitsbereich?

Reinhold Haller: In ihrem Arbeitsbereich hat Frau Müller zu kämpfen. Sie weist überdurchschnittlich häufig krankheitsbedingte Fehlzeiten auf – weit mehr als früher – und ist mit ihrem Arbeitspensum deutlich abgefallen. Sie merkt selbst, dass Flüchtigkeitsfehler zugenommen haben, weshalb die Anzahl von Kundenreklamationen deutlich angestiegen ist. All dies hat in der Beziehung zu ihren Vorgesetzten und Kollegen bzw. Kolleginnen Spuren hinterlassen.

Mario: Wie macht sich die geänderte Situation für Frau Müller bemerkbar?

Reinhold Haller: Da ihre rückläufigen persönlichen Leistungen seit längerem nicht wirklich nennenswert waren und deshalb auch kaum wahrgenommen wurden, erhält Frau Müller nunmehr spärliche bis gar keine Wertschätzung – weder von den Kolleginnen und Kollegen im Team, noch von ihrer zuständigen Führungskraft. Im Gegenteil: Sie spürt die versteckten verbalen und nonverbalen Zeichen, mit dem ihre Umwelt die suboptimalen Leistungen kommentiert. Freundschaftliche, Respekt und Anerkennung zeigende Kontakte nehmen ab.

Mario: Da dürfte sich bei Frau Müller schnell das Gefühl breit machen, entbehrlich zu sein und gemieden zu werden. Fühlt man sich da nicht auch schnell gemobbt?

Reinhold Haller: Sicher. Frau Müller merkt, dass im Umgang mit den Kollegen und Kolleginnen direkte Blickkontakte abgenommen haben, Einladungen zu gemeinsamen Kantinengängen ausgeblieben sind und dass man ihr mitunter auch direkt zu verstehen gibt, sie solle sich zusammenreißen und endlich wieder ihren Job machen wie früher. Das Leben sei – erst recht im Arbeitskontext – »kein Ponyhof« und jeder habe sein Päckchen zu tragen …

Mario: Das klingt nach einem Teufelskreis, der für viele Menschen Alltag gehört …

Es ist tatsächlich ist davon auszugehen, dass dieses düstere Szenario für nicht wenige Menschen zur täglichen Realität gehört. Und selbst wenn einzelne Beschäftigte mit reduziertem Leistungsprofil durch eigene Einstellungen und Verhaltensweisen am Zustandekommen dieses elenden Teufelskreises mitgewirkt haben sollten: Es hilft nicht, über Ursache oder Schuld zu lamentieren. Hier sind lösungsorientierte Denk- und Handlungsansätze gefragt, um aus der für alle Beteiligte unbefriedigenden Situation herauszufinden.

Mario: Lieber Herr Haller, herzlichen Dank, dass ich bei Ihnen nachfragen durfte.

Problemfaktor Minderleistung

Das Problemfeld Minderleistung wird häufig immer noch als Tabuthema behandelt. Dabei sind die Gründe für vorübergehende oder dauerhafte Minderleistung vielfältig und nicht immer von den Betroffenen selbst beeinflussbar. Reinhold Haller beleuchtet Ursachen und Ausprägungen von Minderleistung und zeigt Strategien zur Prävention und Gegensteuerung auf. Dabei geht es vor allem um Führung, Zusammenarbeit und Betriebliches Gesundheitsmanagement, unterstützt durch eine offene und lösungsorientierte Kommunikation. Die vorgestellten Ansätze basieren vor allem auf kommunikativen und verhaltensorientierten Methoden der Personalführung und nur am Rande auf arbeitsrechtlichen Aspekten. Mit zahlreichen Impulsen bietet das Buch praktische Wege, Minderleistung im Sinne aller Beteiligten effektiv und nachhaltig anzugehen.