Die Suche nach dem Sündenbock
Wenn bei Problemen über die Schuldfrage gestritten wird, ist dies immer ein Alarmsignal. Denn erstens tragen Schulddiskussionen nichts zur Lösung des aktuellen Problems bei, und zweitens sind sie ein Indiz dafür, dass der Glaube an den Erfolg des Projekts womöglich bereits verloren gegangen ist. Das ist denn auch ihre einzige positive Seite: Schuldzuweisungen sind ein Frühwarnsignal für eine heraufziehende Projektkrise.
Michael H. leitet ein großes IT-Projekt zur Einführung einer neuen Softwarelösung. Im Verlauf des Projektes kommt es zu erheblichen Verzögerungen und Budgetüberschreitungen. Anstatt die Ursachen für die Probleme in Ruhe zu analysieren und gemeinsam Lösungen zu finden, begannen die Teammitglieder, sich gegenseitig zu beschuldigen. Michael machte die Entwickler für die unzureichende Programmierung verantwortlich, während diese wiederum die unklaren Anforderungen des Kunden anprangerten. Die Marketingabteilung fühlte sich ausgeschlossen und warf dem Projektteam vor, nicht rechtzeitig Informationen bereitgestellt zu haben.
Dieser ganze Zirkus bringt weder das Projekt, noch das Unternehmen auch nur einen Millimeter weiter – im Gegenteil: Die emotionalen “Kollateralschäden” sind gewaltig. Derartige Schuldzuweisungen führen in Projekten schnell zu einem vergifteten Arbeitsklima, in dem jeder versucht, sich selbst zu schützen, anstatt konstruktiv zusammenzuarbeiten. Meetings verwandeln sich in hitzige Debatten, in denen persönliche Angriffe und Vorwürfe an der Tagesordnung sind. Die eigentlichen Probleme bleiben dabei meist ungelöst, und der Zeitdruck wächst weiter. Letztlich führt eine solch negative Dynamik dazu, dass das Projekt nicht nur scheitert, sondern auch wertvolle Ressourcen verschwendet werden. Dabei wird einmal mehr deutlich: Das Suchen nach Schuldigen blockiert den Fortschritt und verhindert echte Lösungen.
Wer Fehler macht, ist schuld und wird dafür zur Rechenschaft gezogen. Diese Haltung sorgt dafür, dass Fehler möglichst vertuscht werden, Verantwortung abgeschoben und „Schuldige“ bestraft werden – ein Lernen aus Fehlern findet so nicht statt.
Aus den Zeiten der Industrialisierung stammt das Ideal des Unternehmens als reibungslos funktionierender Maschine. Im Takt zu agieren bedeutete das Optimum. Kommt es zu Störungen, muss lediglich der Fehler gefunden und behoben werden. Dieses maschinelle Denken herrscht im Kopf von Projektbeteiligten heute immer noch vor.


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Die Schuldfrage als Frühwarnsignal
Jeder noch so kleine Konflikt verrät etwas über die Gesamtsituation im Projektteam. Solange die Teammitglieder an den Erfolg des Projekts glauben, konzentrieren sie sich bei Problemen nicht auf Schuldzuweisungen, sondern darauf, die beste Lösung oder den optimalen Weg zum Ziel zu finden. Selbst wenn ein Teil des Projekts schlecht läuft und den Gesamterfolg gefährdet, suchen engagierte Personen nicht nach Schuldigen. Stattdessen diskutieren sie, was man tun kann oder muss, um dieses Teilprojekt wieder aufs Gleis zu bringen und die verlorene Zeit aufzuholen. Ein möglicher Austausch von Teammitgliedern zielt nicht darauf ab, jemanden zu bestrafen, sondern dient ausschließlich der Lösung der identifizierten Probleme.
Wird dagegen über die Schuldfrage gestritten, ist das Denken und Handeln der Beteiligten nicht mehr vom Glauben an den Gesamterfolg geprägt, sondern von der Furcht vor einem Misserfolg und seinen Folgen. Hinter der Suche nach Schuldigen steht die unausgesprochene Annahme, dass das Unheil nicht mehr abzuwenden ist
Suche nach dem Sündenbock ist kontraproduktiv
Die Tatsache, dass die gesamte Energie in die Klärung der Schuldfrage fließt, gibt so manchem Projekt den endgültigen Todesstoß. Wenn niemand „schuld“ gewesen sein will, dann wird oft viel Zeit vergeudet mit dem Verfassen von Projektnotizen, Protokollen und Mitteilungen, sowie dem Einberufen von Projektbesprechungen, die einzig und allein ein Ziel haben, die eigene Unschuld unter Beweis zu stellen.
Die Suche nach einem Sündenbock dient einerseits dazu, einen Blitzableiter für den aufgestauten Frust zu finden, andererseits dazu, sich und anderen zu beweisen, dass man selbst unschuldig an der Misere ist. Das erreicht man am ehesten, wenn jemand zum Sündenbock erklärt und angemessen abgestraft wird. Dessen Bestrafung ist schließlich zugleich die Lossprechung von der eigenen (Mit-)Schuld. Produktiv ist das nicht. Denn selbst wenn ein „Schuldiger“ gefunden wird, ist das Problem noch längst nicht gelöst.
Es wäre völlig kontraproduktiv, wenn am Ende einer Projektkrise jeder einzelne Beteiligte die bittere Erfahrung gemacht hat, dass er sich, wenn es hart auf hart kommt, weder auf die Solidarität des Teams verlassen kann, noch auf die Rückendeckung der Projektleitung. Wer gelernt hat, dass man im Ernstfall alleine dasteht und schauen muss, wie man seine eigene Haut rettet, der wird kaum noch vertrauensvoll mit den anderen Beteiligten zusammenarbeiten. Es liegt auf der Hand, dass das für ein Arbeitsklima sorgt, in dem sich jeder selbst der Nächste ist.
Eine positive Teamdynamik erzeugen
Für den Projekterfolg ist es entscheidend, ein Umfeld zu schaffen, in dem Vertrauen und Zusammenarbeit im Vordergrund stehen. Schuldzuweisungen sind da eher kontraproduktiv, weil sie das Gefühl der Sicherheit untergraben und die Teammitglieder in schwierigen Situationen anfangen, sich zu rechtfertigen oder gar zu verteidigen. Stattdessen sollten Projektleiter eine Kultur der Offenheit und des respektvollen Austauschs etablieren. Regelmäßige Meetings, in denen Probleme besprochen werden können, tragen dazu bei, dass sich alle Mitglieder gehört fühlen.
Den Fokus auf Lösungen legen
Wenn das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen ist, geht es nicht darum, herauszufinden, wer es reingeschubst hat, sondern darum, es herauszuholen. Hinterher kann man sich natürlich überlegen, was zu tun ist, damit so etwas nicht noch einmal passiert. Aber zunächst geht es darum, eine Lösung für das Problem zu finden. Und dafür ist es viel wichtiger, ein Ziel zu definieren, was man erreichen will, als bis ins kleinste Detail zu analysieren, worin das Problem genau besteht und wer was dazu beigetragen hat.
Um sicherzustellen, dass das Team an Problemen wächst, sollten Projektleiter eine Kultur des Lernens fördern. Anstatt Schuldige zu benennen, ist es entscheidend, die Ursachen von Problemen gemeinsam zu analysieren. Dies schafft ein Umfeld, in dem Fehler als Chancen zur Verbesserung betrachtet werden. Regelmäßige Reflexionsrunden und Retrospektiven ermöglichen es dem Team, Erfahrungen auszutauschen und aus vergangenen Herausforderungen zu lernen.
Survival-Tipps
- Denke daran: Schuldzuweisungen sind immer ein Indiz für Entmutigung, Resignation und Fluchttendenzen. Es gilt, rechtzeitig einzugreifen, um größeren Schaden zu verhindern.
- Achte darauf, dass Schuldzuweisungen im Projekt nicht das Vertrauen und die Zusammenarbeit im Team untergraben. So etwas führt zu einem vergifteten Arbeitsklima.
- Diskutiere, was man tun kann oder muss, um das Projekt wieder aufs Gleis zu bringen und die verlorene Zeit aufzuholen.
- Lege den Fokus auf die Identifizierung von Lösungen anstatt Zeit und Energie mit der Suche nach Schuldigen zu verschwenden.
- Überlege Dir hinterher, was zu tun ist, damit so etwas nicht noch einmal passiert. Aber zunächst geht es darum, eine Lösung für das Problem zu finden.
- Analysiere die Ursachen von Problemen, anstatt Schuldige zu benennen. Nur so kann Dein Team aus Fehlern lernen und zukünftige Herausforderungen besser bewältigen.


Mario Neumann
Der Trainer und Autor schreibt seit 2021 in diesem Online-Magazin locker und pragmatisch über Projektmanagement. Für seine Arbeit wurde er schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationalen Deutschen Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle seine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.