Agilität

Projektmanagement made in Preußen

Von am 02.04.2024

Gerne frage ich Menschen nach ihren Ansichten, Strategien und Thesen, da mich ihre Arbeit und Standpunkte faszinieren. Für meine Kolumne NACHGEFRAGT habe ich mit dem promovierten Historiker Dr. Henning Roet de Rouet gesprochen. Er ist davon überzeugt, dass schon 200 Jahre vor der Entstehung von Scrum situative Herangehensweisen in Europa verbreitet waren. Ich habe ihn gefragt, warum gerade der Blick in die Militärgeschichte verrät, wie sich Agilität umsetzen lässt.

Mario: Wie würdest Du agiles Projektmanagement definieren?

Henning Roet de Rouet: Stark vereinfacht und mit einem guten Schuss Selbstironie bedeutet agiles Projektmanagement: Mal schauen, wie weit wir kommen. Agilität ist heutzutage ein Modewort, das vor allem in der Software-Entwicklung weit verbreitet ist. Allerdings war diese Herangehensweise schon lange vor der Entstehung von Scrum und anderen agilen Methoden in Europa bekannt.

Mario: Interessant. Kannst Du uns Beispiele aus der Vergangenheit geben?

Henning Roet de Rouet: Diese Beispiele finden wir, indem wir über den Tellerrand hinausblicken und auch auf die Kriegsführung vergangener Zeiten schauen. Die Denkweise, die aus der extremen Situation des gewaltsamen Aufeinandertreffens zweier Streitkräfte entstand, kann uns heute viel über Agilität im Projektmanagement lehren.

Ein interessantes Beispiel dafür ist die Änderung in der Beförderungspraxis der preußischen Armee. Zu Beginn wurden Beförderungen nach Zugehörigkeit und nicht nach Fähigkeiten vergeben. Das führte dazu, dass auch ältere Offiziere, die möglicherweise nicht mehr fit genug für den Dienst an der Front waren, befördert wurden.

Mario: Was war an der einstigen Beförderungspraxis so problematisch?

Henning Roet de Rouet: Offiziere, das sind in der romantisierten Vorstellung entweder schneidige Draufgänger: jung, drahtig und charmant, ganz wie Tom Cruise in Top Gun. Oder aber sie sind grauhaarig, haben ein markantes Gesicht und als General werden sie um ihr strategisches Geschick beneidet.

Letzterer sitzt am Schreibtisch, plant und gibt Befehle, an der Front sieht man ihn kaum. Was nun weniger in das Bild passt, ist ein grauhaariger, sehr alter Mann in einer Leutnantsuniform, kaum mehr in der Lage, sein Pferd an die Front zu reiten. Aber wieso kann es sein, dass ein Offizier in so hohem Alter in der Uniform des niedrigsten Offiziergrades überhaupt zur Front reiten muss? Die Antwort ist simpel und heute überholt: Anciennität – Beförderungen werden nach Zugehörigkeit und nicht nach Fähigkeiten vergeben. Als adliger ohne Land (oder durch den Krieg verlorenes Land) war das Militär oft der Notnagel der eigenen finanziellen Existenz.

Mario: Kannst Du uns erklären, wie genau sich die Beförderungspraxis in der preußischen Armee schließlich verändert hat?

Henning Roet de Rouet: Erst im Rahmen der Preußischen Reformen – man denke an die Namen Humboldt, Scharnhorst, Stein oder Hardenberg – wurden derlei strukturelle Überkommenheiten auf ihre Tauglichkeit untersucht und – wenn nötig – radikal ausgesondert. Nicht länger wurde Dienstalter als Zeichen für Fähigkeiten synonym verwendet. Nur noch tatsächliche Leistungen sorgten für Beförderungen – ein Bruch mit historisch gewachsenen und fest verwurzelten Traditionen. Gerade im Heer Preußens wurden Traditionen hochgehalten und ein Verzicht auf Anciennitätsbeförderungen bedeutete, sich gegen Traditionalisten zu stellen, die in solchen Maßnahmen geradezu den Untergang des glorreichen Heeres Preußens sahen. Ein wahrlich riskanter Schritt, sich gegen die Eliten des Landes zu stellen.

Titelbild: Ralf Geithe auf istockphoto / Bild: Henning Roet de Rouet

Mario: Und was hat die Herangehensweise der preußischen Reformen, genauer der Militärreformen, mit dem heutigem Projektmanagement zu tun?

Henning Roet de Rouet: Die Antwort ist: Mut. Den Mut zu haben, mit Konventionen zu brechen, Gegebenes zu hinterfragen und auch abzulehnen und den Mut zu haben, das Rad neu erfinden zu wollen. Klingt das nicht nach agilem Projektmanagement?!

Mario: Deiner Ansicht nach zeichnete sich aber schon vor der Niederlage Preußens auf dem Schlachtfeld ab, warum die Franzosen gewinnen würden. Kannst Du uns erklären, warum die Franzosen im Vergleich zu anderen Nationen auf dem Schlachtfeld überlegen waren?

Henning Roet de Rouet: Im Zuge der französischen Revolution und den folgenden Kriegen in ganz Europa zeigte sich bereits damals, dass ein agiles Mindset, also ein agiles Herangehen an Probleme, Vorteile mit sich bringt, welche bei starren und hochstandardisierten Abläufen undenkbar waren.

Mario: Das klingt nach einer interessanten Entwicklung …

Henning Roet de Rouet: Ja, unbedingt. Was den Gegnern der französischen Revolutionsarmee Niederlage um Niederlage brachte, waren die gleichen festgefahrenen Denkweisen, die 200 Jahre später eine Revolution im Projektmanagement durch agile Methoden geradezu heraufbeschworen.

Die französische Armee bestand hauptsächlich aus wenig erfahrenen Soldaten oder gänzlich unbedarften Männern. Sie hatten keine haargenauen Ablaufpläne wie andere Armeen, sondern zogen mit der Idee der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – in den Kampf.

Mario: Wie unterschied sich das von anderen Armeen?

Henning Roet de Rouet: Andere Armeen wie das Heer Österreichs arbeiteten mit bewährten Prozessen und hatten genaue Regelungen für das Kriegsgeschehen. Jeder Soldat wusste genau, wie er zu marschieren hatte, wie, wann und wo er und seine Gruppe zu schießen, zu laden und in Deckung zu gehen hatten. Und schließlich wusste jeder Soldat auch, dass es am Abend eine Mahlzeit geben würde. Warum er wusste, dass sein Magen am Abend nur in seltenen Fällen leer bleiben musste? Ganz einfach, das Reglement, wie viel Brot, Butter, Fleisch oder Tabak pro Soldat welchen Ranges an die Front transportiert werden musste, war grammgenau beschrieben. Durch die genaue Anzahl konnte dann ermittelt werden, wie viele Transportkarren, Pferde und Soldaten benötigt wurden, um den Weg an die Front in der entsprechenden Zeit absolvieren zu können. Ein starres System, wie es zur damaligen Zeit Standard im Militär europäischer Mächte war.

Mario: Und was war bei den Franzosen so viel anders?

Henning Roet de Rouet: Das französische Heer war jung und unerfahren, es musste ohne derlei Prozessbeschreibungen auskommen. Das Ziel, Essen an der Front zu liefern, wurde nicht durch traditionelle Denkmuster bestimmt (Das haben wir schon immer so gemacht), sondern pragmatisch und ohne Dogmatik angegangen. Die Soldaten wurden aus dem Felde versorgt, und nur ein kleiner notwendiger Teil umständlich an die Front transportiert.

Dies kam einer Revolution in der Kriegsführung gleich, was jedoch keinesfalls mit Plünderung und Brandschatzung verglichen werden darf. Der notwendige Teil verbrauchte deutlich weniger Ressourcen als das traditionelle Denken und Handeln der Österreicher. Die Franzosen passten sich schnell den Gegebenheiten an, reagierten situativ auf externe Einflüsse und hatten keine starren Vorgaben zu befolgen – abgesehen von einer Gesamtstrategie. Diese agile Denkweise ermöglichte eine bessere Ressourcennutzung und mehr Flexibilität in ihrem Handeln, wodurch sie mehr Ressourcen für andere militärisch wichtige Angelegenheiten hatten. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie eine neue Denkweise in der Kriegsführung älteren Denkweisen überlegen war.

Mario: Kannst Du uns erklären, wie sich die preußische Armee nach der vernichtenden Niederlage bei der Schlacht von Jena und Auerstedt im Jahr 1806 reformiert hat?

Henning Roet de Rouet: Nach dieser Niederlage musste Preußen dringende Reformen im militärischen Bereich vornehmen. Ein wichtiger Aspekt war die Einführung der Auftragstaktik, die besagt, dass sich der Einsatz der Soldaten an unvorhergesehene Begebenheiten anpassen muss. Dies folgte der Maxime „Kein Plan überlebt den ersten Feindkontakt“.

Passiert nun auf dem Schlachtfeld etwas Unvorhergesehenes, wie etwa starker Regen oder Sumpf, so muss der Einsatz der Soldaten angepasst werden, ganz egal was der ursprüngliche Plan für Kavallerie, Infanterie oder Artillerie vorsah. Der schnelle und geänderte Einsatz von Soldaten wird deshalb als Auftragstaktik bezeichnet. Das agile Manifest beschreibt es heute ähnlich: Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans.

Mario: Das klingt nach einer interessanten Entwicklung. Wie wurde diese Taktik umgesetzt?

Henning Roet de Rouet: Die Auftragstaktik erlaubte es militärischen Führern eigenständige Entscheidungen zu treffen, auch gegen ihren ursprünglichen Befehl, solange das übergeordnete Ziel erreicht wurde. Früher hätte ein Soldat wegen Missachtung eines Befehls vor dem Militärgericht verurteilt werden können.

Mario: Wie wirkte sich diese neue Herangehensweise auf die Kampfhandlungen aus?

Henning Roet de Rouet: Diese agile Herangehensweise zeigte erstmals in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Schlacht von Königgrätz im Deutsch-Deutschen Krieg 1866 ihre Überlegenheit gegenüber zu starren Befehlsketten. Die Beschleunigung der Kampfhandlungen sorgte dafür, dass der siegreich war, der agierte und nicht der, der reagierte.

Mario: Es fällt mir schwer, das Militär als Vordenker agilen Denkens zu sehen …

Henning Roet de Rouet: Warum nicht? Jegliches Beharren auf vorgegebenen Strukturen der gewählten Projektmanagement-Methode führt im Zweifel zu Reibungsverlusten oder den falschen Ressourcen an den falschen Stellen. Was zu Clausewitz‘ Zeiten die Niederlage eines Gefechts nach sich gezogen hätte, wird sich heute in einem gescheiterten Projekt darstellen. Die Dogmatik, Befehlen oder Plänen blind zu folgen, auch wenn sie in der veränderten Lage wenig Sinn ergeben, ist heute wie vor 200 Jahren zum Scheitern verurteilt. Der Mut, kurzfristig seine Mittel zu überdenken und in der Folge anzupassen, muss natürlich nicht immer von Erfolg gekrönt sein. Doch erhöht man die Chance signifikant.

Mario: Lieber Henning, vielen Dank für diese Einblicke in die militärische Geschichte.

Zur Person

Dr. Henning Roet de Rouet studierte Geschichte in Frankfurt, Darmstadt und Chemnitz, wobei der Schwerpunkt des promovierten Historikers auf dem Wilhelminischen Deutschland und dessen Mentalitätsgeschichte sowie der Regionalgeschichte Frankfurts lag. Nach einem Jahrzehnt als Berater für Projekt- und Prozessmanagement in Deutschland und Südostasien, hilft er nun Unternehmen in den Bereichen Innovation und Organisationsentwicklung. Als Historiker in der Wirtschaft kombiniert er nicht nur literarisch Lehren aus der Geschichte mit modernen Ansätzen des Managements.