Motivier mich mal
Jeder Projektleiter weiß, wie sehr der Projekterfolg vom Einsatz seiner Mitarbeiter abhängt. Um die Projektziele zu erreichen, benötigt er ein Team, das engagiert mitmacht und diszipliniert in die richtige Richtung marschiert. Doch was tun, wenn einige Mitarbeiter nicht mitziehen oder, schlimmer noch, sich widersetzen?
Ein großer Fahrzeughersteller hat Clemens K. berufen, ein in Verzug geratenes Entwicklungsprojekt zu übernehmen. Dem Mann eilt der Ruf voraus, ein guter Organisator zu sein. Also genau der Richtige, um das Prestigeprojekt wieder auf Kurs zu bringen?
Clemens K., der sehr strukturiert denkt und handelt, trifft auf ein kreativ-chaotisches Projektteam. Er empfindet die Situation als das reinste Chaos – und setzt genau da den Hebel an: Er sorgt für Pläne, Checklisten, Klarheit und Stabilität. Doch die Teammitglieder ignorieren die neuen Strukturen, verweigern die Zusammenarbeit. Clemens K. wittert Sabotage und versucht, der Lage mit Sanktionen Herr zu werden. Damit jedoch bringt er das Team erst recht gegen sich auf.
Was seine Diagnose angeht, hat sich Clemens K. getäuscht: Hinter der ablehnenden Haltung seiner Mitarbeiter stehen weder Sabotage noch böser Wille. Ihm ist es schlicht nicht gelungen, sich auf sein Team einzustellen und die Teammitglieder für das Projekt zu gewinnen. Mit seinem Ansinnen, im Projekt für Ordnung und Struktur zu sorgen, hat er seine kreativ veranlagten Mitarbeiter vor den Kopf gestoßen.
Das Beispiel führt drastisch vor Augen, wie wichtig es für einen Projektleiter ist, seine Mitarbeiter zu motivieren. Andernfalls fehlen ihm die einsatzbereiten Mitstreiter, die mitziehen, ihr Bestes geben – und die er für den Projekterfolg so dringend benötigt.
Ein Projektleiter sollte darauf achten, die Projektarbeit mit den Motiven der einzelnen Mitarbeiter in Einklang zu bringen. Denn die individuellen Einstellungen sind ausschlaggebend dafür, ob sich ein Mitarbeiter wirklich engagiert oder nicht.
Sechzehn Lebensmotive bestimmen unser Verhalten
Um ein motiviertes Team zu erhalten, kommt es vor allem auf eines an: die Projektaufgaben richtig zu verteilen, sprich dem richtigen Mitarbeiter die richtige Aufgabe zu übertragen. Doch wie erkennst Du, welche Aufgaben ein Mitarbeiter motiviert angehen wird, welche dagegen eher nicht zu ihm passen? Schließlich weißt Du ja nicht, was in den Köpfen der Mitarbeiter vor sich geht. Oder vielleicht doch?
In gewisser Weise geht das, und zwar mit Hilfe eines Modells des amerikanischen Psychologen Steven Reiss. Der Wissenschaftler fand heraus, dass es insgesamt 16 verschiedene Lebensmotive gibt, die einen Menschen antreiben können: Macht, Unabhängigkeit, Neugier, Anerkennung, Ordnung, Sparen, Ehre, Idealismus, Beziehungen, Familie, Status, Rache, Romantik, Essen, körperliche Aktivität und emotionale Ruhe. Diese Lebensmotive sind tief in der Persönlichkeit eines Menschen verwurzelt, bestimmen seine Wünsche, Werte und Einstellungen – und haben damit auch Einfluss darauf, wie er die Welt sieht und sich verhält.
Wir ahnen nun schon, welches Kernproblem dem Projektleiter Clemens K. zum Verhängnis wurde: Sein Verhalten ist in hohem Maß vom Motiv „Ordnung“ geprägt, das mit einem sehr niedrigen Ordnungsmotiv der kreativ veranlagten Entwickler kollidierte. Da er diese psychologischen Hintergründe nicht kannte, beharrte er auf der Einhaltung der von ihm eingeführten Strukturen und Regeln – und provozierte so den Widerstand seiner Mitarbeiter.
Für Deine Arbeit als Projektleiter heißt das: Achte auf die Lebensmotive der einzelnen Teammitglieder! Berücksichtige beim Umgang mit ihnen und bei der Verteilung der Projektaufgaben, welche Lebensmotive das jeweilige Projektmitglied antreibt. Geht es beispielsweise um die Auswahl eines entscheidungsstarken Teilprojektleiters, solltest Du auf einen Mitarbeiter mit hoher Ausprägung beim Lebensmotiv „Macht“ setzen.
Die Lebensmotive im Projektalltag entschlüsseln
Steven Reiss‘ Modell der Lebensmotive erklärt, warum ein Mensch in einer Aufgabe hochmotiviert aufgeht, ein anderer mit derselben Aufgabe zutiefst unglücklich ist. So gibt es Menschen, die sich unmöglich vorstellen können, als Pflegerin oder Pfleger in einem Altenheim zu arbeiten, während das für andere ein Traumberuf ist. Deutlich wird: Um motivorientiert zu führen, musst Du die Motive der einzelnen Mitarbeiter kennen.
Nun stehen die Lebensmotive natürlich niemandem auf der Stirn geschrieben. Doch kannst Du die Motivstruktur eines Mitarbeiters zumindest ansatzweise erschließen, indem Du ihn beobachtest und ihm gezielte Fragen stellst. So kann beispielsweise die Frage „Wie haben Sie Ihren letzten Urlaub verbracht?“ Hinweise darauf geben, wie stark die Lebensmotive Neugier, emotionale Ruhe und Beziehungen ausgeprägt sind. Die Frage „Wie wichtig ist es für Sie, Kontakt zu Ihren Kollegen zu haben?“ zielt auf die Lebensmotive Beziehungen und Unabhängigkeit ab.
Darüber hinaus hilft es, einen Mitarbeiter zu beobachten: Auf welche Weise und über welche Themen redet ein Mitarbeiter mit seinem Projektleiter und seinen Kollegen? Welche Tätigkeiten übt er bevorzugt aus? Wie exakt plant er seine Arbeit? Trifft er gern und schnell Entscheidungen oder holt er erst die Meinungen anderer ein und wägt genau ab? Arbeitet er sich schnell und bereitwillig in neue Gebiete ein oder bleibt er lieber beim Alten? Das Verhalten eines Mitarbeiters kann durchaus Aufschluss darüber geben, welche Lebensmotive für ihn prägend sind.
Die Kunst, motivorientiert zu führen
Für alle 16 Lebensmotive und ihre verschiedenen Ausprägungen gibt es konkrete Ansätze, die Dir als Projektleiter helfen können, motivorientiert zu führen. Zur Erklärung beschränken wir uns an dieser Stelle auf das Lebensmotiv „Macht“, das den Wunsch nach Einflussnahme und Gestaltung beschreibt.
Menschen mit einem stark ausgeprägten Machtmotiv streben nach Erfolg, Leistung, Führung und Verantwortung. Demzufolge ist ein Projektmitarbeiter mit einem hoch ausgeprägten Machtmotiv vor allem dann motiviert und leistungsbereit, wenn sein Projektleiter ihm Einfluss und Gestaltungsspielräume bietet. Das kann durch folgende Maßnahmen geschehen:
- Der Projektleiter zeigt dem Mitarbeiter seinen Entscheidungsspielraum auf: „Sie kennen das Ziel, treffen Sie die dafür notwendigen Entscheidungen.“
- Der Projektleiter setzt durch Wörter wie „Vorbild“, „Leistungsträger“ oder „Aktivposten“ gezielte Anreize und weckt den Ehrgeiz des Mitarbeiter.
- Der Projektleiter kommt dem Wunsch nach Eigenverantwortung nach, indem er Ziele vorgibt, die Vorgehensweise jedoch dem Mitarbeiter überlässt.
Natürlich erfordert eine motivorientierte Führung mehr, als stur diesen und ähnlichen Tipps zu folgen. Wichtig sind auch eine gute Menschenkenntnis, vor allem aber Offenheit für die Werte und Prioritäten anderer Menschen.
Survival-Tipps
- Kläre Deine eigene Motivlage. Besonders stark ausgeprägte eigene Motive bergen die Gefahr, Mitarbeiter zu demotivieren, die durch andere Motive geprägt sind.
- Folge nicht der irrigen Annahme, dass Aufgaben und Maßnahmen, die Du selbst motivierend findest, auch Deine Mitarbeiter motivieren.
- Identifiziere die Lebensmotive Deiner Mitarbeiter. Entwickle im Laufe der Zeit ein Gespür dafür, was Deine Mitarbeiter antreibt.
- Schärfe Deine Beobachtungsgabe, um herauszubekommen, was Deinen Mitarbeitern wichtig ist. Beobachte, wie sie sich verhalten und über was sie gerne reden.
- Stimme Deine Kommunikationsweise auf die Motivlage Deiner Mitarbeiter ab: Überlege, mit welchen Worten Du Deine Mitstreiter zur Mitarbeit bewegst.
- Übertrage jedem Mitarbeiter möglichst die Aufgaben, die ihn motivieren – und gestalte sein Umfeld so, dass es ihn motiviert.
Mario Neumann
Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.