Well Team Times Nr. 299

Raum geben, Raum nehmen

Von am 23.10.2025

Jemandem Raum geben

ist sozio-psychisch zu verstehen. Die Bedeutung geht über das rein Physische hinaus und umfasst die Schaffung einer Atmosphäre des Vertrauens, der Wertschätzung und des Respekts.
Raum geben bedeutet:

  • innerhalb bestimmter Grenzen Freiheiten zulassen, um Wachstum und Entfaltung zu ermöglichen
  • etwas in seinem Wert erkennen und fördern, indem man bewusst Platz dafür schafft
  • für jemanden da sein und ihn bestärken, ohne ihn zu lenken, zu bedrängen oder zu bewerten, weil man ihm zutraut, dass er selbst weiß, was er braucht
  • eine offene, freundliche Umgebung schaffen, in der Gedanken und Gefühle Platz finden

Auch in einem hierarchisch aufgebauten Unternehmen, kann der Vorgesetzte den Mitarbeitern Raum geben:

  • Umgang mit „Unten“ bedeutet: einen Rahmen geben, einen Spielraum lassen
  • Umgang mit „Oben“ bedeutet: den gegebenen Rahmen füllen, den Spielraum nutzen

Wer Menschen Freiraum gibt, ist präsent, achtsam, hört zu, ohne zu urteilen, und ermöglicht ihnen, ihre eigenen Pläne zu schmieden. Raum geben ist Kernkompetenz von Moderatoren und Therapeuten. Es bedeutet, eine aufmerksame, mitfühlende Runde zu schaffen, in der Raum nehmen – den Raum halten sich jeder gesehen, gehört und verstanden fühlt.

„Raum geben“ ist „Zeit geben“

Eine team-dynamische Veranstaltung soll einen verlässlichen, geschützten Rahmen bieten, in dem sozio-emotionale Prozesse laufen können. Die Teilnehmer wollen sich auf einen pünktlichen
Beginn und ein pünktliches Ende verlassen. Zeitraubende rhetorische Exkursionen und Wortklaubereien sollen vermieden werden.

Ist der Kreis gestellt und sitzt jeder auf einem Platz, dann geht es darum, wer sich in der Mitte zeigt. In der Angewandten Teamdynamik kann hier immer nur eine Person stehen.

Wie viel Raum steht einem Teilnehmer zu?

Das bemisst der Moderator. Rechnerisch hat jeder Teilnehmer gleich viel Zeit. Doch die Teilnehmer werden sich die Zeit nicht so gleichmäßig aufteilen. Da gibt es geringeren und größeren Bedarf dranzukommen. Es gibt Inszenierungen, die eine Stunde dauern, und es gibt kurze Auftritte, wo jemand sich nur schnell mal zeigt. Die Teilnehmer verbrauchen die Ressource Zeit also nicht immer ausgewogen. Es wird jemanden geben, der die meiste Zeit verbraucht, und jemanden, der die Mitte nur kurz oder vielleicht gar nicht in Anspruch nimmt. Aber vielleicht ist jemand in der Mitte zu oft, zu lange oder zu langweilig?
Es kommt vor, dass Teilnehmer in die Mitte treten, weil sie glauben, sie müssten dies tun, um nicht widerständig oder desinteressiert zu erscheinen. Sie halten es für erforderlich sich zu eigen, weil dies die anderen tun. Manche Teilnehmer füllen die Zeit, ohne wirklich etwas zu sagen. Der Moderator fragt sich, ob es richtig ist, dieser Art von Selbstdarstellung Raum zu geben.

Die Ressource „Zeit in der Mitte“ ist knapp und niemand sollte sie unnötig in Anspruch nehmen. Den Raum in der Mitte freizugeben und ihn gerecht zuzuteilen, darin liegt eine große Herausforderung für den Moderator. Er kann Gerechtigkeit anstreben, aber kann er sie auch erreichen?

Foto: Matjaz Slanic auf istockphoto

Sich Raum nehmen

In der Psychologie bedeutet „sich Raum nehmen“, den sozialen Raum zu beanspruchen und zu verteidigen, um eigene Gefühle, Bedürfnisse, Stärken und Schwächen zu zeigen, anstatt sich inzuschränken oder zu verstecken.

Es geht um Selbstdarstellung,

darum, die eigene Kompetenz zur Wirkung zu bringen. In der Teamdynamik geht man dafür in die Mitte. Dort ist man dann raumgreifend, ob man will oder nicht. „Sich Raum nehmen“ heißt, dass man seine Persönlichkeit authentisch und selbstbewusst präsentiert, anstatt sich vornehm zurückzuhalten. Es ist die Entscheidung, für das eigene Anliegen und die eigene Meinung  einzustehen.

Wenn Menschen übermäßig viel Raum einnehmen, vermitteln sie damit einen Dominanzanspruch und dass ihre Belange wichtiger seien als die der anderen. Darum erfordert es Mut, Raum einzunehmen, besonders wenn man sich von Unsicherheiten oder vom Vergleich mit anderen beeinflussen lässt. Man muss sich selbst erlauben, die eigene Meinung, den eigenen Anspruch zu vertreten, dabei das Risiko eingehen, Korrektur, Konkurrenz oder Konflikte zu bekommen.

Wer gesehen werden will, muss sich zeigen

  • das heißt authentisch sein, zu den eigenen Gedanken stehen, diese auch kommunizieren, anstatt sich zurückzunehmen
  • Emotionen wie Angst, Trauer oder Wut nicht verstecken, um nicht an Kraft und Ausstrahlung zu verlieren
  • Gespür für den eigenen körperlichen und emotionalen Raumbedarf entwickeln, um effektive Kommunikation und gesunde Beziehungen zu pflegen
  • Absichten, Wünsche und Ziele klar definieren, wissen, wofür man den Raum braucht und verteidigt, signalisieren, dass man den Raum, den man einnimmt, auch verdient.

Die Bedeutung von „Raum einnehmen“ kann stark vom Kontext abhängen und auch ins Negative gehen: dominieren – sich ausbreiten – sich aufblähen – Platz beanspruchen – unübersehbar sein – die Szene beherrschen – sich wichtig machen.
„Raum einnehmen“ bedeutet sowohl physische Präsenz im Raum – also den eigenen Körper ausstrecken und eine stabile Position einnehmen – als auch für sich selbst und die eigenen  Bedürfnisse einstehen, sich behaupten, um seinen Platz im Leben zu finden. Das geht nur mit einer starken, selbstbewussten Haltung, die sich sowohl im körperlichen als auch im mentalen und sozialen Auftreten zeigt. Sich Raum nehmen geht einher mit dem Selbstwertgefühl.

Vielleicht ist ein Zögern, Raum einzunehmen, auf die Angst zurückzuführen, dass man unausstehlich oder arrogant wirkt oder dass die eigene Anwesenheit eine Belastung für die Mitmenschen
darstellt.

Den Raum halten

„Der Moderator hält den Raum.“ Diese Ausdrucksweise wird im Kontext von Workshops, Coachings, Weiterbildung oder auch Selbsterfahrung verwendet. Sie steht für die Funktion, einen Rahmen zu schaffen und aufrechtzuerhalten, in dem die Teilnehmer sich angenommen, gehört und verstanden fühlen.

Zulassen, was ist

„Raum halten“ bedeutet, einen geschützten, wertungsfreien Raum zu bieten und zu verteidigen. Jeder soll seine Gedanken, Gefühle, Erfahrungen, Meinungen und Bedürfnisse frei äußern können, ohne verurteilt, herabgesetzt, unterbrochen oder kritisiert zu werden. Dabei muss der Moderator die eigenen Bedürfnisse zurückstellen, aufmerksam und unterstützend für die Teilnehmer da sein, ihnen Gelegenheit zur Klärung und Entfaltung geben. Er sollte allparteilich sein und zulassen, was ist, ohne zu versuchen, es zu kontrollieren oder zu beeinflussen.

Etwas steht im Raum

Was bedeutet diese Redewendung? Eine Frage bleibt offen – etwas bleibt in der Schwebe – etwas sei dahingestellt – etwas lässt sich nicht klären – etwas, das niemand ansprechen mag – etwas ist geheim oder unaussprechlich …
Der Raum muss gehalten werden – und etwas, was im Raum steht, muss auch gehalten werden, denn irgendwann muss es ja doch geklärt werden. Der Moderator waltet seiner Aufgabe.

Emotionen suspendieren

Der Moderator hält den Raum mit der notwendigen Fähigkeit, seine Emotionen zu suspendieren. Das heißt: Er kann die Intensität und die Dauer der Emotionen willentlich beeinflussen. Er kann die Gemütsbewegungen, die bei ihm in Resonanz mit den individuellen Prozessen entstehen, kontrollieren, seine Gefühle vorübergehend aussetzen und für später aufheben.

Es geht nicht darum, Emotionen zu unterdrücken, sondern sie situationsgerecht zu steuern und angemessen mit ihnen umzugehen. Die bewusste und kurzzeitige Selbstbeherrschung gehört zur gesunden Affektregulation, während ein längeres, unbewusstes Unterdrücken negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben kann.

Fazit

Der Moderator wird eine akzeptierende und schützende Atmosphäre kreieren und aufrechterhalten, in der die Teilnehmer sich öffnen und begegnen können. So können sie tiefere Einsichten gewinnen und ihre Ressourcen aktivieren.

Mario Neumann

Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.