Well Team Times Nr. 281

Habe ich eine Identität?

Von am 07.05.2024

Wer bin ich? Habe ich eine Identität?

Ich bin nicht die Rolle, die ich übernommen habe!

Identität im Duden

Echtheit einer Person, die völlige Übereinstimmung mit dem, was sie ist oder als was sie bezeichnet wird. Identität ist auch die innere Einheit, die eine Person als ihr „Selbst“ erlebt.

Identität in der Teamdynamik

Identität als persönliches Problem verfängt sich in der Frage: Wer bin ich? Bin ich einmalig, bin ich unverwechselbar?
In der Angewandten Teamdynamik lautet die Frage etwas anders, nämlich ganz spezifisch:

  • Wer bin ich in dieser Situation in diesem Team beziehungsweise in diesem Kreis?
  • Welche Funktion, welche Rolle habe ich jetzt hier?

Das bedeutet, dass die Identität im Team nichts Statisches, sondern etwas Fließendes ist, das sich in jeder Situation mit jeder Veränderung wandelt und neu entwickelt.

Womit oder mit wem identifiziere ich mich?

In einer team-dynamischen Übung wird man wiederholt gefragt: „Wer bist du?“ Und jedesmal soll man eine andere Antwort geben. Zum Beispiel:
Ich bin Anton, ich bin ein Chef, ich bin eine Ärztin, ich bin ein Kellner, ich bin eine Kindergärtnerin, ich bin einDeutscher, ich bin eine Fachkraft, ich bin Nichtraucher, ich bin Veganer, ich bin eine Musikerin, ich bin ein Chormitglied, ich bin ein Mensch, ich bin ein Suchender, ich bin eine Nachbarin, ich bin ein Individuum, ich bin ein Niemand …

Foto: Matjaz Slanic auf istockphoto

Individuelle Identität

Im sozial-psychologischen Sinne versteht man unter Identität die Summe der Merkmale, anhand derer ein Individuum von anderen unterschieden werden kann. Diese Identität erlaubt eine eindeutige Identifizierung.
Ein anderes Begriffsverständnis fasst unter Identität alle Merkmale zusammen, die ein Individuum ausmachen. Hier wird noch unterschieden:

  • Ich-Identität
    einzigartige Merkmale
  • Wir-Identität
    mit einer Gruppe geteilte Merkmale, auch: kollektive Identität

Kollektive Identität

Jede kollektive Identität hat eine enorme Macht über uns als Individuen. Wir müssen erkennen, dass die gesellschaftlichen Zusammenhänge stärker sind, als alle individualistischen Anstrengungen. Nationale Identität ist ein Wir-Bewusstsein, aber nicht das einzige. Wir erleben eine Vielzahl von Identitäten, die uns mit jeweils anderen Mitmenschen in einem solchen
Wir-Bewusstsein verbinden. Es gibt die konzentrischen, auch geografisch konzentrischen Identitäten: Wir Sachsen, wir Deutschen, wir Europäer, das passt alles gut zusammen und schließt sich keineswegs aus. Auf der Zugspitze freut sich ein Sachse, wenn er einen Sachsen trifft, in Italien freut er sich, wenn er einen Deutschen trifft, und in Burma freut er sich, wenn er einen Niederländer trifft, denn so fern von Europa ist dieser einer von uns Europäern. Eine globale Identität als Mensch zu entwickeln, erfordert nicht die Etablierung einer Weltregierung oder die Abschaffung aller kulturellen, religiösen und nationalen Unterschiede.

Identifikation mit einer Person

Hierunter fallen sämtliche Verhaltensweisen, mit denen sich ein Mensch die Eigenschaften, Attribute und Ambitionen einer anderen Person zu eigen macht und sie in seine Empfindungen und sein Verhaltensrepertoire inventarisiert. Identifizierung bedeutet hier also eine Selbstentfremdung. Der entfremdete Mensch verschmilzt unbewusst mehr oder minder stark mit einem anderen und übernimmt dessen Gefühle und Verhalten in sein eigenes Ich. Die Gründe für eine Identifizierung liegen hier am häufigsten in einer zugeschriebenen, selbst gewählten oder unbewusst übernommenen Stellvertreterschaft für einen aus dem System Ausgeschlossenen. Systemaufsteller nennen das „Verstrickung“.

Identifikation mit einem sozialen System

Hier hängt die Identität an einem Wir-Bewusstsein: wir Christen, wir Frauen, wir Querschnittsgelähmten, wir Gewerkschaftler, wir Schauspielerinnen.
Solche Gruppen begründen in der Regel Verbundenheit, Empathie, Interesse aneinander und gegebenenfalls Solidarität.

„Ich kann gleichzeitig mehreren Identitäten treu sein: meiner Familie, meinem Dorf, meinem Beruf, meinem Land und auch meinem Planeten und der ganzen menschlichen Spezies. Das ist nicht immer einfach. Aber wer hat gesagt, dass das Leben einfach sei?“ Yuval Noah Harari, israelischer Historiker

Identifikation mit einer Rolle, die man übernimmt

In jeder Gruppe entwickeln sich bestimmte funktionale Rollen, die den ausgesprochenen sowie unausgesprochenen Zielen der Gruppe dienen, damit diese ihre Arbeit beginnen und fortsetzen kann. Es lässt sich dabei deutlich eine Reihe von Rollen herauskristallisieren, die sich aus der Bemühung des Einzelnen ergeben, das jeweilige soziale System zu stützen und weiterzuentwickeln: Gruppenleiter, Mitläufer, Berater, Spezialist, Kritiker, Außenseiter, Oppositioneller, Clown …
Das sind Rollen, keine Identitäten!

Identifikation mit einem Beruf

In früheren Zeiten war die Identität eines Schusters: Schuster. Ein Bauer war ein Bauer. Ein Schreiber ein Schreiber. Die berufliche Rolle war auch die Identität, und diese Identität war dann auch oft der Nachname.
Heute gibt es im Berufsleben oft ein Rollenspiel. Führungskräfte unterscheiden sich heute vom Durchschnitt der Arbeitnehmer vor allem durch ein Plus an schauspielerischem Talent. Am meisten Erfolg hat, wer das Berufsleben als Spiel begreift. Erfolgreiche Führungskräfte sind sich klar darüber, dass sie tagtäglich Rollen spielen. Sie können problemlos von einer in die andere Rolle wechseln – je nach Gegenüber und Situation. Wer Führungsverantwortung will, spielt dieses Spiel und entscheidet sich jeden Tag ganz bewusst neu, ob er es wirklich will. Und wenn ja, dann spielt er die Rollen intelligent, mit Lust und Absicht.
Die Lust am Spiel hat auch positive Nebenwirkungen. Wer sich selbst überzeugend inszenieren, mit seiner Person wie ein Schauspieler auftreten und Geschichten vorführen kann, wird gesellschaftlich zum Anziehungspunkt. Durch seine Bilder und Botschaften beeinflusst er Menschen – ohne je Druck auszuüben.

Rollen im teamdynamischen Training

Bei jedem Teilnehmer gibt es einen Zusammenhang zwischen seiner Rolle im Training und seiner Rolle in der Gesellschaft. Die Verhaltensweisen und Strategien, die er zur Platzfindung im Team einsetzt, wird er auch in seiner Position in der Gesellschaft einsetzen.
In der Teamdynamik hat jeder die Möglichkeit, sich selbst in verschiedenen Rollen auf der Bühne (im Kreis) darzustellen, und das ohne Identitätsverlust. Bei seiner Bitte um Feedback reflektiert er die Resonanz auf seine Darstellungen.
Die Selbstdarstellung erfordert sehr viel Mut, Ehrlichkeit und Überwindung. Erst wenn ein Teilnehmer seine mitgebrachte Rolle („für was er sich hält“) mit dem nötigen Abstand betrachtet und verstanden hat, wie sie funktioniert, kann er andere Rollen ausprobieren und übernehmen.

Damit die Teilnehmer im teamdynamischen Training nicht an alten Rollenbildern kleben, gibt es auch „verbotene“ Redewendungen:

  • „Ich bin ein Mensch, der …“
  • „Ich bin kein Mensch, der immer gleich …“

Mario Neumann

Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.