Mikrodemokratie auch im Projekt!?
Demokratie im Kleinen wie im Großen
Demokratie kann man einer Gesellschaft nicht von oben nach unten verordnen. Sie kann nur von unten nach oben wachsen, sie wächst mit der Reife des Menschen. So müssen wir an der Basis etwas tun, schon in der Grundschule. Demokratiebildung ist in den Schulen bis hin zu den Hochschulen im Lehrplan verankert. Auch außerhalb des Bildungssystems sollte sich jeder, der sozial-kommunikativ unterwegs ist, beherzt für unsere freiheitlich demokratische Grundordnung engagieren. Dazu braucht er allerdings nicht nur eine demokratische Grundhaltung, sondern für seine Workshops, Seminare, Unterrichtsstunden und Veranstaltungen auch ein paar effektive Methoden der Demokratievermittlung.
Die Angewandte Mikrodemokratie bietet ein elementares, einfaches Bündel von Interaktionsformen. Hier schaut man auf die Positionen und Konstellationen der einzelnen Akteure, im räumlichen wie im sozialen Sinne. Denn das Gefüge bestimmt die Gefühle, wie auch die Gefühle das Gefüge bestimmen. Für Anwender der mikro-demokratischen Interaktion ist die Wirkung oft erstaunlich.
Idee der Mikrodemokratie
In einem lernenden, kreativen oder produktiven sozialen System begeben sich 10 bis 15 Teilnehmer in einen mikrodemokratischen Prozess. Die Grundform ist ein geometrisch exakter Sitzkreis. Das ist der mikro-demokratische Kreis, dessen Mitte als sozialer Fokus genutzt wird.


Foto: Matjaz Slanic auf istockphoto
Kurzbeschreibung:
- In Übungen lernen sich die Teilnehmer persönlich näher kennen und erkunden ihre unterschiedlichen individuellen Talente, Kompetenzen, Ziele und Ambitionen.
- Sie entdecken, wie sich in ihrem System die Ziele und Kompetenzen ergänzen.
- Jede Meinung wird gehört, jede Qualifikation anerkannt. Jeder bringt sich auf seine Weise ein, wird dafür wertgeschätzt und angenommen, wie er ist.
- In arrangierten Reihengesprächen wird jeder jedem begegnen, in die Augen schauen und die Beziehung aufs Laufende bringen.
- Der Prozess läuft auf der sozio-emotionalen Ebene, fördert die Empathie und das Selbstbewusstsein jedes einzelnen Teilnehmers.
- In der Mikrodemokratie gibt es keine geheimen, sondern nur transparente Wahlen, wo jeder seine Stimme offen mit Handzeichen signalisiert.
- Alle Teilnehmer sind immer auch Kandidaten. Sie erfahren, wie ihre Qualifikation für eine bestimmte Funktion eingeschätzt wird.
- Wer für eine Position gewählt wurde, nimmt die Wahl an und wächst mit der Aufgabe.
- Wer nicht gewählt wurde, erkennt das Wahlergebnis an und unterstützt den Gewählten bei der Erfüllung der Aufgaben. (Solidarität)
- Bei Ebenbürtigkeit aller Mitglieder entstehen hinsichtlich relevanter Kriterien unterschiedliche Rangfolgen, vergleichbar mit Listenplätzen.
- Die Dynamik in der Sozialstruktur wird räumlich-körperlich sichtbar gemacht.
- Jeder hat in dem System einen angemessenen Platz, auf dem er geben kann, was er hat, und nehmen kann, was er braucht. Die Ressourcen können fließen.
Einzelne Prozessstufen können in speziell konzipierten mikrodemokratischen Workshops, Seminaren und Events zum Tragen kommen. Diese Veranstaltungen werden zu Keimzellen einer neuen Begegnungskultur, in der demokratische Werte vermittelt, verinnerlicht und gelebt werden. Diese Kultur kann einfließen in die große Demokratie, deren Vorzüge wir in unserem Staat genießen dürfen.
Die mikro-demokratische Begegnungskultur
Dermikro-demokratische Kreis ermöglicht eine spontane und spielerische Interaktion, bei der sich die Teilnehmer unmittelbar persönlich begegnen. Einfach nur Stühle, keine Tische, keine Technik: Diese Interaktion ist mehr als ein Infostand oder ein Markt für den Meinungsaustausch. Man erlebt ein Panoptikum der Posen, eine Messe der Mimik, ein Ballett von Gesten, ein Konzert von Stimmen, eine unwiederbringliche Premiere. Hier bedient man sich aller Formen des unmittelbaren persönlichen Ausdrucks. Alle Sinne werden angesprochen.
Man erwartet einander nicht nur, man erblickt, ergreift, erhört und erlebt einander. Man beguckt, berührt, beschnuppert sich – und weiß bald ganz genau, wer einem „schmeckt“, wen man nicht riechen und wen man gut leiden kann. Im mikro-demokratischen Kreis ist man nicht online, sondern leibhaftig miteinander verbunden. Jede Meinung, jedes Gefühl, jeder Impuls, alles, was sich intellektuell oder emotional äußern will, kann sich spontan in der Mitte, auch unkonventionell darstellen. In den Aktionen dürfen Ernst und Spaß ineinanderfließen und sind nicht mehr zu trennen. Das in Weiterbildungsseminaren übliche bindende, meist nach Begriffen, Sachpunkten oder Themen gegliederte Programm wird ersetzt durch einen spontanen Gruppenprozess, der durchgehend einer natürlichen sozio-emotionalen Dynamik unterliegt. Jeder kann den Prozess beeinflussen, aber niemand kann ihn beherrschen. Die Gruppe als Ganzes schafft sich ihre Atmosphäre. Jeder Einzelne kann sich seinen Part bewusstmachen und ihn gestalten.
Die Akteure bringen ihre Anliegen mit und tragen sie in ihrer momentanen Verfassung in die Gruppe hinein. Zusammenhänge werden transparent gemacht, auf den Punkt gebracht und im gemeinsamen Erleben spielerisch verarbeitet, am besten zum Zeitpunkt der persönlichen Betroffenheit. Der Betroffene wird wohlwollend begleitet und durch einen emotionalen Prozess geleitet,
so dass er am Ende freier, aufgeräumter, kompetenter dasteht und insgesamt stimmiger in sein System integriert ist.
Die Vision
Die Angewandte Mikrodemokratie wirkt sich stilprägend aus, nicht nur auf die Begegnungs- und Seminarkultur, sondern auch auf die Bildung, die Weiterbildung sowie die gesamte Kommunikationskultur. Wo immer sich Menschen begegnen, um kreativ und produktiv zu sein, verlaufen die Begegnungen ungezwungen, harmonisch, ehrlich und effektiv. Die Einzelnen werden in ihren sozialen und emotionalen Kompetenzen gestärkt und sie qualifizieren sich immer noch weiter. Beziehungen klären sich, Einvernehmen stellt sich ein, auf beruflicher, politischer oder persönlicher Ebene.
Der engagierte Trainer, Berater, Aufsteller, Pädagoge, Dozent, Therapeut, Supervisor, Demokratievermittler, eigentlich jeder, der mit Teams, Gruppen, Gremien oder Gemeinschaften zu tun hat, kennt die demokratischen, systemischen und proxemischen Prinzipen. Wenn er schult, trainiert oder moderiert, bezieht er den Körper mit ein und klammert die Gefühle nicht aus. Er nutzt die mikro-demokratischen Methoden und Interaktionsformen, speziell den Kreis, und bittet seine Teilnehmer, in die ungeahnt lehrreiche Kreismitte zu treten. Jeder, der die Interaktionsformen kennengelernt hat, beginnt mit ihnen zu arbeiten und nutzt gezielt die Elemente, die in sein Setting passen.
Auch den Parteien, Vereinigungen, Initiativen und Denkfabriken wird der mikrodemokratische Kreis empfohlen, da er sicherlich eher zum Konsens führt als die Diskussion hinter Tischen, die in
Reihen, in U-Form oder auf einem Podium stehen.
Soziale Medien …
Das Urmedium „face-to-face“ behält seine Schlüsselstellung. Angesichts des Vordringens digitaler Medien und virtueller Begegnungen in unsere Gesellschaft braucht der Dialog von Angesicht zu Angesicht eine sorgfältige Kultivierung und Weiterentwicklung. Denn nur die unmittelbare, persönliche Begegnung wird uns emotional berühren und unser Mindset nachhaltig prägen.


Mario Neumann
Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.