Die nerven!
Gerne frage ich Menschen nach ihren Ansichten, Strategien und Thesen, da mich ihre Arbeit und Standpunkte faszinieren. Für meine Kolumne NACHGEFRAGT habe ich mit der geschäftsführenden Gesellschafterin bei flow Consulting Silke Engel gesprochen. Sie ist davon überzeugt, dass man Widerstände nicht nur als Hindernis sehen darf. Ich habe sie gefragt, wie man stattdessen gezielt auf die Bedürfnisse und Bedenken der Betroffenen eingehen kann.
Mario: Silke, Du stellst in Deinem neuen Buch ein Change-Tool namens „Die nerven!“ vor. Kannst Du kurz erklären, worum es bei diesem Tool geht?
Silke: Das Tool „Die nerven!“ ist ein Ansatz, um den Umgang mit Widerstand in Veränderungsprozessen zu erleichtern. Es unterstützt Teams dabei, die verschiedenen Reaktionen innerhalb einer Gruppe auf einen geplanten Change zu erkennen und zu verstehen. Dabei geht es nicht primär darum, Widerstand zu überwinden, sondern vielmehr darum, die Motive hinter den Reaktionen zu identifizieren und daraus sinnvolle Maßnahmen abzuleiten, um alle Beteiligten bestmöglich einzubinden.
Mario: Wie unterscheidet sich dieses Tool von klassischen Strategien zur Überwindung von Widerstand?
Silke: Klassische Strategien zielen oft darauf ab, Widerstand direkt zu überwinden oder auszuräumen. Das Tool „Die nerven!“ setzt stattdessen auf eine bewusste Analyse der unterschiedlichen Reaktionsmuster: Wer ist für den Change? Wer ist neutral? Wer zeigt offen Widerstand? Und wer stimmt leise dagegen? Durch diese differenzierte Betrachtung können wir gezielt auf die Bedürfnisse und Bedenken der jeweiligen Gruppen eingehen, anstatt Widerstände nur als Hindernis zu sehen.
Mario: Welche konkreten Schritte beinhaltet das Tool im Prozess?
Silke: Zunächst werden die vier Reaktionsgruppen vorgestellt: die Vorantreiber, Unterstützer, Gegenspieler und Skeptiker. Dann identifizieren wir gemeinsam im Team, wer in der aktuellen Situation welche Rolle einnimmt. Anschließend arbeiten wir in rotierenden Kleingruppen daran, Hypothesen zu den Motiven und Bedürfnissen hinter diesen Reaktionen zu entwickeln. Das Ziel ist es, daraus konkrete Maßnahmen abzuleiten, um alle Gruppen individuell anzusprechen und für den Change zu gewinnen.
Mario: Wie hilft dieses Vorgehen dabei, Akzeptanz für Veränderungen zu schaffen?
Silke: Indem wir die Beweggründe der einzelnen Gruppen verstehen, können wir gezielt auf ihre Anliegen eingehen. Das schafft Vertrauen und zeigt Wertschätzung für unterschiedliche Perspektiven. Außerdem ermöglicht es uns, Maßnahmen so anzupassen oder neu zu entwickeln, dass sie bei den jeweiligen Gruppen besser ankommen. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass alle Beteiligten den Wandel aktiv mitgestalten – was letztlich entscheidend für den Erfolg des Change-Prozesses ist.


Silke Engel ist geschäftsführende Gesellschafterin und Senior Consultant bei flow consulting. Bei ihr dreht sich alles um Kommunikation. Als studierte Psycholinguistin weiß sie bei ihren Trainings, Coachings und Beratungen genau, wovon sie spricht. Ob im Vertrieb, in der Führung oder in der internen Organisation – Silke Engel vermittelt ihre Inhalte mit großem Engagement und der nötigen Prise Humor. Sobald mit dem Kunden das Warum geklärt ist, geht sie lösungsorientiert an das Wie. Bevor sie sich entschloss, bei flow consulting einzusteigen, war Silke Engel 15 Jahre als selbständige Beraterin, Trainerin und Coach im süddeutschen Raum tätig.
Mario: Kannst Du ein Beispiel geben, wie das Tool in der Praxis angewendet wird?
Silke: Stell Dir vor, in einem Unternehmen soll eine neue Arbeitsweise eingeführt werden. Während einige Mitarbeitende begeistert sind (Vorantreiber), gibt es andere, die eher passiv bleiben (Unterstützer) oder sogar offen Widerstand leisten (Gegenspieler). Mit dem Tool analysieren wir zunächst diese Rollenverteilung. Dann suchen wir in Kleingruppen nach den Beweggründen: Warum sind manche skeptisch? Was brauchen die Gegenspieler? Auf Basis dieser Erkenntnisse entwickeln wir Maßnahmen – etwa individuelle Gespräche oder Schulungen –, um auch die Skeptiker abzuholen und letztlich alle für den Wandel zu gewinnen.
Mario: Was ist Deiner Meinung nach der größte Vorteil dieses Tools im Vergleich zu anderen Ansätzen im Change-Management?
Silke: Der größte Vorteil liegt darin, dass es nicht nur auf das Überwinden von Widerstand abzielt, sondern auf das Verstehen der Hintergründe. Es fördert eine empathische Haltung und ermöglicht maßgeschneiderte Strategien. So wird Veränderung nicht nur durch Druck umgesetzt, sondern durch Dialog und Verständnis – was nachhaltiger ist und langfristig mehr Akzeptanz schafft.
Mario: Silke, für welche Situationen eignet sich das Tool „Die nerven!“ besonders gut?
Silke: Das Tool ist besonders dann geeignet, wenn es erkennbare Unterschiede in den Einschätzungen zu einem Veränderungsvorhaben gibt. Zum Beispiel, wenn eine »Ja, aber«-Kultur die Umsetzung bremst, wichtige Stakeholder nicht mitziehen oder sogar das Projekt behindern. Es ist auch hilfreich, wenn die anfängliche Euphorie schwindet, Teilprojekte stocken oder die Verantwortlichen das Gefühl haben, noch nicht die nötige Mehrheit für den Change gewonnen zu haben und nicht wissen, wie sie Mitarbeitende erreichen können.
Mario: Kann das Tool „Die nerven!“ auch vor der offiziellen Kommunikation eines Change-Vorhabens eingesetzt werden?
Silke: Ja, auf jeden Fall. Es kann sowohl vor der ersten Kommunikation genutzt werden, um ein besseres Verständnis für mögliche Widerstände zu entwickeln, als auch später im Prozess, wenn noch Anpassungen notwendig sind. Das flexible Vorgehen ermöglicht es, auf unterschiedliche Phasen des Change-Prozesses zu reagieren und Maßnahmen entsprechend anzupassen.
Mario: Was sind die ersten Schritte bei der Anwendung dieses Tools?
Silke: Zunächst stellen wir die Matrix mit den vier Reaktionstypen vor – also die Vorantreiber, Unterstützer, Gegenspieler und Skeptiker. Wichtig ist auch, vorab Befürworter und Vorantreiber zu identifizieren und sichtbar zu machen. Dann fragen wir im Team: Wer lehnt das Vorhaben ab? Wir sammeln Vermutungen über Gruppen oder Personen und benennen diese. Diese Namen schreiben wir auf ein Whiteboard oder Flipchart und teilen es in drei Spalten – für die Gegenspieler, Skeptiker und andere relevante Gruppen.
Mario: Wie gehst Du bei der Analyse der einzelnen Gruppen vor?
Silke: In einem nächsten Schritt bilden wir Kleingruppen, die jeweils einer Reaktionstyp-Gruppe zugeordnet sind. Diese Gruppen beschreiben in ihrer Spalte auf dem Flipchart, woran man ihre Haltung erkennt – also konkrete Verhaltensweisen oder Aussagen. Anschließend wechseln sie im Uhrzeigersinn zum nächsten Flipchart und überlegen sich Hypothesen: Warum könnten diese Personen so reagieren? Was könnten ihre Beweggründe sein? Hierbei ist es wichtig, wohlwollende Annahmen zu treffen und keine vorschnellen Urteile.
Mario: Warum ist es wichtig, bei den Hypothesen vorsichtig zu sein?
Silke: Weil unfaire oder negative Annahmen wie „Will nur seine Ruhe“ oder „Hält sich für was Besseres“ wenig konstruktiv sind und kaum zielführende Maßnahmen ermöglichen. Stattdessen sollten wir versuchen herauszufinden, was diese Personen motiviert oder was sie antreibt. Eine hilfreiche Frage dazu lautet: „Wie würde diese Person ihr Verhalten erklären, wenn sie es einem engen Vertrauten schildern würde?“ So kommen wir eher an die tatsächlichen Beweggründe heran.
Mario: Welche Vorteile bietet dieses strukturierte Vorgehen im Umgang mit Widerständen?
Silke: Es schafft Klarheit darüber, wer welche Haltung zum Change hat und warum. Dadurch können wir gezielt Maßnahmen entwickeln, um einzelne Gruppen anzusprechen und einzubinden. Es fördert zudem eine offene Diskussion im Team über mögliche Missverständnisse oder Unsicherheiten. Insgesamt erhöht es die Wahrscheinlichkeit, dass alle Beteiligten den Veränderungsprozess mittragen und aktiv unterstützen.
Mario: Was ist Deiner Meinung nach der wichtigste Erfolg dieses Tools?
Silke: Der entscheidende Vorteil liegt darin, dass es hilft, Widerstände nicht nur als Hindernis zu sehen, sondern als Hinweise auf Bedürfnisse und Bedenken. Durch das Verständnis dieser Hintergründe können wir maßgeschneiderte Strategien entwickeln – so wird Veränderung nachhaltiger und alle Beteiligten fühlen sich ernst genommen.
Mario: Silke, nachdem die Gruppen ihre Einschätzungen und Hypothesen erarbeitet haben, geht es im nächsten Schritt um die Entwicklung konkreter Maßnahmen. Wie gehst Du dabei vor?
Silke: Nachdem die Gruppen ihre Hypothesen aufgestellt haben, wechseln sie erneut das Flipchart und konzentrieren sich auf die Spalten mit den möglichen Reaktionen. Basierend auf den vorherigen Annahmen entwickeln sie Maßnahmen, um die Akzeptanz bei den jeweiligen Gruppen zu erhöhen. Dabei ist es wichtig, die bereits erarbeiteten Erkenntnisse zu berücksichtigen, damit die Maßnahmen gezielt auf die Bedürfnisse der Gruppen eingehen. Es empfiehlt sich, diesen Schritt zu wiederholen, wenn mehr Gruppen oder Personen identifiziert wurden, um eine umfassende Strategie zu entwickeln.
Mario: Welche besonderen Hinweise gibst Du für den Umgang mit den beiden Gruppen „Skeptiker“ und „Gegenspieler“ bei der Maßnahmenplanung?
Silke: Für die Skeptiker und Skeptikerinnen ist Geduld gefragt. Sie brauchen keine sofort wirksamen Maßnahmen, sondern sollten regelmäßig angesprochen werden, konkrete Lösungen präsentiert bekommen, eigene Erfahrungen machen dürfen und persönliche Vorteile aufgezeigt bekommen. Bei den Gegenspielern und Gegenspielerinnen ist es anders: Sie arbeiten aktiv gegen den Change und wollen gehört werden. Hier ist es wichtig, ihre Motive ernst zu nehmen, Einwände auszuräumen und gleichzeitig klarzumachen, dass der Change trotz ihrer Bedenken kommt. Es geht darum, ihre Beweggründe nicht zu ignorieren, sondern konstruktiv damit umzugehen.
Mario: Wie gestaltest Du die Präsentation der Ergebnisse aus den vorherigen Schritten? Gibt es eine spezielle Vorgehensweise?
Silke: Ja, wir präsentieren die Ergebnisse in einer Art „Vernissage“. Die Flipcharts werden nacheinander vorgestellt. Nach jeder Präsentation fragen wir nach weiteren Sichtweisen oder Ergänzungen. Diese notieren wir zusätzlich in einer anderen Farbe oder auf Karten, um alle Perspektiven sichtbar zu machen. Ziel ist es, das Bild möglichst umfassend zu gestalten – auch gegensätzliche Hypothesen und Ideen werden festgehalten. Dabei weisen wir immer wieder auf Querverbindungen zwischen den Spalten hin und passen Maßnahmen entsprechend an.
Mario: Wie gehst Du bei der Priorisierung der entwickelten Maßnahmen vor?
Silke: Wir nutzen oft eine Matrix, in der alle Maßnahmen anhand von Kriterien wie Umsetzbarkeit (z.B. „leicht“ vs. „schwer“) und Wirkung (z.B. „großer Effekt“ vs. „kleiner Effekt“) eingeordnet werden. Das kann in einer stillen Diskussion erfolgen: Die Teilnehmenden hängen Karten in die entsprechenden Quadranten und können diese verschieben, ohne Worte zu benutzen. So entsteht ein gemeinsames Verständnis darüber, welche Maßnahmen priorisiert werden sollten. Diese Methode hilft dabei, objektiv und transparent Entscheidungen zu treffen.
Mario: Was ist bei der Planung der konkreten Umsetzungsschritte besonders wichtig?
Silke: Es ist entscheidend, dass sich alle Teilnehmenden darauf einigen, wer welche Maßnahmen mit welchen Mitteln bis wann umsetzt und wie der Erfolg nachgehalten wird. Das kann durch eine klare Verantwortlichkeitszuweisung erfolgen oder durch konkrete Kennzahlen – beispielsweise Teilnahme an mindestens zwei von drei Meetings oder Erreichen eines bestimmten Ziels innerhalb eines festgelegten Zeitrahmens.
Mario: In Deiner Erfahrung – warum ist es so wichtig, im Change-Prozess auch Macht- und Einflussfragen zu berücksichtigen?
Silke: Weil Veränderungsprozesse immer auch Macht- und Einflussdynamiken beinhalten. Verschiedene Gruppen ringen oft um die „richtige“ Lösung oder versuchen, ihre Interessen durchzusetzen. Das Change-Team darf diese Dynamik nicht ignorieren; vielmehr müssen Motive und Bedürfnisse ernst genommen werden. In komplexen Vorhaben ist es unmöglich, alles von oben vorzugeben. Stattdessen sind Verhandlungen notwendig: Die Beziehung zwischen den Beteiligten muss immer wieder neu ausgehandelt werden. Widerstand sollte nicht nur als Hindernis gesehen werden, sondern als Feedback für notwendige Anpassungen im Prozess.
Mario: Abschließend: Was ist Deiner Meinung nach das wichtigste Erfolgsrezept für einen nachhaltigen Change-Prozess?
Silke: Das wichtigste ist das Verständnis für die unterschiedlichen Motivationen und Sichtweisen aller Beteiligten sowie deren Einbindung in den Prozess. Nur wenn wir diese Motive ernst nehmen und aktiv in unsere Maßnahmen integrieren, können wir Widerstände konstruktiv nutzen und den Wandel erfolgreich gestalten – gerade bei komplexen Vorhaben braucht es eine kontinuierliche Aushandlung dieser Beziehungen.
Mario: Liebe Silke, herzlichen Dank, dass ich bei Dir nachfragen durfte.


Toolbox Leading Change
Die Toolbox stellt eine Vielzahl von Change-Methoden vor, die speziell für Führungskräfte zu den Themen Prozessbegleitung, Methodenrepertoire und Analysetools entwickelt wurden. Es bietet digitale und analoge Verfahren, die sich besonders für das iterative Steuern von Change-Vorhaben eignen und somit auch für agiles Projektmanagement anschlussfähig sind. Anders als klassische Changemanagement-Toolsammlungen, die phasenorientiert vorgehen, liefert das Buch praxisnahe Anleitungen und Werkzeuge zum iterativen Vorgehen bei organisationalen Veränderungen. Die praxiserprobten Tools stammen aus der langjährigen Arbeit der flow consulting gmbh. Ein Roadmapping führt die Leser:innen in die verschiedenen Tools ein und gibt Orientierung, welches Tool sich für welchen Zweck und welches Format (Workshop, Coaching etc.) eignet.