Führung

Der größte Freund der Verzetteleritis

Von am 27.02.2025

Ich stelle Menschen gerne Fragen, weil mich ihre Arbeit, ihre Strategien, ihre Standpunkte oder ihre Thesen interessieren. Für meine Kolumne NACHGEFRAGT habe ich das Gespräch mit Sven Lüngen gesucht. Der Experte für systemisches Management ist überzeugt, dass wir im Arbeitsalltag schnell in die Falle der Verzetteleritis tappen. Ich habe bei Sven nachgefragt, warum unklare Prioritäten und Perfektionismus die größten Feinde sind, um Dinge erledigt zu bekommen.

Mario: Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit nimmst, mit uns über das Thema „Priorisierung & Perfektionismus“ zu sprechen. Lass uns gleich einsteigen: Warum wird Perfektionismus oft als der größte Feind bei der Erledigung von Aufgaben angesehen?

Sven: Perfektionismus kann tatsächlich hinderlich sein, besonders wenn Prioritäten nicht geklärt sind und wir bei Unwichtigem hohe Ansprüche an uns und andere selbst stellen. Wenn eine Aufgabe „wichtig“ erscheint oder wir unsere Kompetenz beweisen wollen, neigen wir dazu, alles fehlerfrei und perfekt machen zu wollen. Das führt oft dazu, dass wir uns verzetteln. Wir stellen Ressourcen für zu vieles zur Verfügung und reservieren diese nicht für das wirklich Wesentliche.

Mario: Was sind die typischen Anzeichen dafür, dass jemand in die Falle des Perfektionismus tappt?

Sven: Häufige Zeichen sind Überstunden, zu lange To Do-Listen und das Gefühl mit den bestehenden Ressourcen nicht alles hinbekommen zu können. Wenn wir überall nach perfekten Ergebnissen streben, bei dem alle Details bedacht und berücksichtigt werden sollen, werden wir mit den vorhandenen Ressourcen nicht klarkommen. Dies führt dann fast zwangsläufig dazu, dass man viel Zeit mit unwichtigen Aspekten verbringt und dabei das Wesentliche aus den Augen verliert.

Mario: Hast Du ein Beispiel für eine Situation, in der Perfektionismus Ressourcen verschwendet hat?

Sven: Ja! Denke einmal an perfekt gestaltete Formulare oder detaillierte Excel-Dateien, die mehr Aufwand erfordern als nötig. Oft wird mit solchen „Kanonen“ auf Spatzen geschossen – es wird unnötig viel Energie in Kleinigkeiten investiert und zu wenig über deren wirklichen Nutzen nachgedacht.

Mario: Kannst Du denn auch Beispiele nennen, wo Perfektionismus positive Ergebnisse hervorgebracht hat?

Sven: Sicher! Schauen wir uns Werke von Künstlern wie Salvador Dalí oder Komponisten wie Wolfgang Amadeus Mozart an. Ihre nahezu perfekten Werke haben beeindruckende Strahlkraft und sind kulturübergreifend anerkannt. Diese Künstler haben jedoch auch viel Zeit in ihre Schaffensprozesse investiert. Man könnte sagen: Sie konnten sich Perfektionismus „leisten“.

Mario: Ist es Deiner Meinung nach sinnvoll, Perfektion als Maßstab für Führungskräfte zu setzen?

Sven: Nein, im Führungskontext stehen oft nicht die nötige Zeit und Muße zur Verfügung, um perfekte Ergebnisse zu erzielen. Und in den meisten Fällen braucht es auch keine perfekten, sondern „ausreichend“ gute Ergebnisse. Der Anspruch auf Perfektion sollte daher – wenn überhaupt – nur bei wirklich wesentlichen Aufgaben gelten.

Darüber hinaus hat die wunderbare Brené Brown in ihrem Buch „Führung wagen“ auf die sozialen Auswirkungen und den Druck hingewiesen, der durch perfektionistische Führungskräfte entsteht. Mitarbeitende haben das Gefühl es dann auch perfekt machen zu müssen und es können sogar Ängste entstehen.

Mario: Wie können Führungskräfte lernen, besser mit dem Thema Perfektionismus umzugehen?

Sven: Es ist wichtig zu anzuerkennen, dass im Führungsalltag wenig perfekt sein kann. Führungskräfte sollten sich darauf konzentrieren, ihre Ressourcen auf wesentliche Aufgaben zu lenken und den Mut haben, auch mal „gut genug“ zu akzeptieren. Manchmal ist es besser, Fortschritt statt Perfektion anzustreben.

Sven Lüngen ist Experte für systemisches Management und als Impulsgeber berät er mittelständische Unternehmen und Organisationen. Der gelernte Sozialpädagoge und Betriebswirt weiß, dass es nicht reicht, lediglich das Gute zu wollen. In einer immer komplexeren Welt sind systemisches Managementwissen und -können gefordert. Er verfügt über mehr als zehn Jahre Erfahrung als Geschäftsführer und ist überzeugt: Klares Denken über die Aufgaben und Funktionen des Managements sind unverzichtbare Voraussetzung dafür, das Gute auch zu erreichen.

Mario: Lass uns auch noch über Pragmatismus sprechen: Warum wird Pragmatismus oft als der größte Feind eines angemessenen Anspruchs und einer guten Qualität angesehen?

Sven: Pragmatismus ist für mich das notwendige Gegengewicht zum Perfektionismus. Er ist der Freund der Effizienz und des Abarbeitens. Und ja, er hat auch wie der Perfektionismus, eine Schattenseite. In der Tat kann er dazu führen, dass wir Abstriche bei der Qualität machen, uns vielleicht nicht intensiv genug in etwas eindenken oder keine ausreichende Fehlerkontrolle in der Arbeit einbauen. Während dies bei weniger Wichtigem sinnvoll sein kann und Ressourcen für Wesentliches „sparen“ hilft, kann dies bei Aspekten von hoher Bedeutung sehr riskant sein.

Mario: Kannst Du ein Beispiel nennen, das diese positive Seite des Pragmatismus verdeutlicht?

Sven: Sicher! Denke an eine Kollegin, die durch pragmatisches Vorgehen an den richtigen Stellen weniger Überstunden macht und einen deutlich leereren Schreibtisch hat als andere. Gelingt es ihr dabei das Wesentliche in ausreichender, guter Qualität abzusichern, zeigt dieser Ansatz, wie man mit weniger Aufwand unter dem Strich gute Ergebnisse erzielen kann.

Mario: Viele Menschen haben schon vom Pareto-Prinzip gehört. Wie hängt dieses Prinzip mit dem Thema Pragmatismus zusammen?

Sven: Das Pareto-Prinzip besagt, dass ein Großteil der Effekte von einem kleinen Teil der Ursachen herrührt. Richard Koch hat diese Regel weiter interpretiert und gezeigt, dass sie auch in der heutigen Wirtschaft gültig ist. Wenn wir pragmatische Ergebnisse anstreben, können wir mit sehr wenig Ressourcen (ca. 20%) schon sehr viel (80%) erreichen. Genügt einem dieses Qualitätsniveau jedoch nicht, wird mit wachsendem Anspruch exponentiell mehr Einsatz von Ressourcen, Zeit und Aufmerksamkeit notwendig.

Mario: Wie beeinflusst dies den Alltag einer Führungskraft?

Sven: Berücksichtigen Führungskräfte das Pareto-Prinzip im Alltag sind sie gezwungen zu unterscheiden, was welche Priorität hat. Sind die Prioritäten klar, ist es dann deutlich einfacher die eigenen Ressourcen sinnvoller zuzuordnen und Aufmerksamkeit sowie Engagement auf das „Richtige“ auszurichten.

Mario: Welche Rolle spielt dabei für Dich die drei Ws – Wesentliches, Wichtiges und Wünschenswertes?

Sven: Die drei Ws helfen zu Priorisieren. Die Idee ist Aufgaben, Projekte und alles andere, was Ressourcen in Anspruch nimmt miteinander zu vergleichen. „Was ist wichtiger als anderes?“ Ist die erste Frage, die das Wünschenswerte vom Wichtigen trennt. „Was ist am Wesentlichsten von dem Wichtigen?“ hilft dann in einem zweiten Schritt die zentralen Prioritäten herauszufiltern. Am Ende sollten hier nicht mehr als 5 Aspekte (eher weniger) stehen. Mehr werden wir wohl alle nicht mit hohem Energieaufwand konsequent verfolgen können.

Mario: Priorisieren ist doch als Anforderung an Führungskräfte nicht neu – wo ist aus Deiner Sicht der Vorteil der drei Ws?

Sven: Ja, Du hast natürlich recht. Führungskräfte sprechen über Prioritäten und ringen auch im Alltag um Schwerpunktsetzungen. Die Logik der drei Ws ist jedoch ein relativer Vergleich. Dagegen erlebe ich oft im Alltag, das Führungskräfte bei Themen und Aufgaben die Bedeutung „absolut“ einschätzen. Das macht einen bedeutenden Unterschied. Der Vergleich zwingt mich Rangfolgen zu bilden und etwas „wichtiger“ oder sogar „wesentlicher“ als anderes einzuschätzen. Ich kann mich gut an eine Prioritätenliste einer Führungskraft erinnern, die 24 große Aufgaben jeweils einzeln bewertet und für sich mit oberster Priorität versehen hat. Wenn Du mich fragst eine „Mission impossible“. Im Coaching hat sie dann den relativen Vergleich der drei Ws gewagt und konnte so die Aufgaben auf vier wesentliche reduzieren. Diese geht sie nun mit hohem Engagement an und hat somit für sich selbst wieder einen klaren Fokus erarbeitet.

Mario: Kannst Du diese drei Kategorien noch näher erläutern?

Sven: Die drei Ws zeigen auf, wo welcher Pol „Perfektionismus“ oder „Pragmatismus“ eher Berechtigung hat. So können wir Qualitäten und Niveaus der Bearbeitung unterscheiden. Wesentliches sollte in sehr guter Qualität erledigt werden, auch wenn es nicht perfekt sein muss. Wichtiges hingegen sollte in ausreichender Qualität gewährleistet und pragmatisch angegangen werden, um unerledigte Aufgaben zu vermeiden. Wünschenswertes sollte (ganz im Sinne des Pareto-Prinzips) auf jeden Fall pragmatisch bearbeitet werden – Perfektion sollte hier auf jeden Fall vermieden werden. In diesem Feld des Wünschenswerten gibt es wahrscheinlich sogar Potenziale etwas ganz wegzulassen, einzufrieren oder einer unterminierten Themenliste zu parken.

Mario: Wie hilft diese Zuordnung bei der Klärung von Prioritäten und Verantwortlichkeiten?

Sven: Wenn TOP-Führungskräften mit Ihren Leitungskräften Projekte, Ziele oder größere Aufgabenpakete vereinbaren, wird inzwischen recht klar der Rahmen geklärt. Da werden Termine gesetzt, Budgets definiert und Meilensteine gesetzt. Doch eine Frage bleibt meist unbearbeitet: die Frage der Qualität.

Mario: Was bedeutet der Begriff „Qualität“ für Dich im betrieblichen Kontext?

Sven: Der Begriff Qualität stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „Beschaffenheit“ oder „Eigenschaft“. Er sagt zunächst nichts über die Güte aus; die Beschaffenheit kann als „gut“ oder „schlecht“ wahrgenommen werden.

Mario: Wie wird Qualität im betrieblichen Alltag typischerweise wahrgenommen?

Sven: Oft wird Qualität automatisch mit hoher Qualität gleichgesetzt. Der Satz „Wir müssen auf die Qualität achten!“ wird häufig verwendet, wenn etwas verbessert oder weiterentwickelt werden soll. Dabei könnte er auch angebracht sein, wenn bei Wünschenswertem zu viel investiert oder Zeit verschwendet wird.

Mario: Wie unterstützt die Zuordnung in die drei Ws dabei, die angestrebte Qualität der Ergebnisse zu definieren?

Sven: Diese Zuordnung ermöglicht eine klare Vorstellung davon, wie etwas erledigt oder bearbeitet werden soll. Einigen sich z.B. Auftraggeberin und Projektleiter auf eine Priorität des Vorhabens, kann darauf aufbauend auch das erwartete Qualitätsniveau gemeinsam festgelegt werden.

Und selbst wenn es Ausnahmen geben mag, bei denen dann doch Wichtiges in voller Perfektion bearbeitet werden muss, kann dies abgestimmt und vereinbart werden.

Die Zuordnung in die drei Ws bietet im Idealfall eine Grundorientierung sowohl für Einzelpersonen als auch für Teams und ganze Organisationen. Im Idealfall entwickelt sich eine Kultur der Fokussierung auf Wesentliches, in der alle sich auf relevantes konzentrieren. In Teams und Organisationen mit einer solchen Kultur gibt es keine unklaren Prioritäten und die Verzetteleritis hat wenig Chancen.

Mario: Gibt es abschließend einen Rat für Führungskräfte im Umgang mit diesen Prinzipien?

Sven: Ja! Seien Sie sich bewusst über die Unterschiede zwischen Wesentlichem, Wichtigem und Wünschenswertem. Nutzen Sie diese Zuordnung aktiv in Ihrem Führungsalltag, um Ressourcen effizient einzusetzen und gleichzeitig die notwendige Qualität sicherzustellen.

Mario: Lieber Sven, herzlichen Dank, dass ich bei Dir nachfragen durfte.

Führe doch Du!

Führungskräfte bewältigen jeden Tag unzählige Herausforderungen – im Team, bei Kunden, gegenüber der Geschäftsleitung. Es gilt, Nutzen für Kunden zu ermöglichen, sich verändernden Anforderungen zu stellen, Vorgaben umzusetzen, Konflikte zu bearbeiten und bei alldem noch ein gutes Miteinander zu fördern. Damit Führungskräfte in diesem komplexen Alltagsbusiness nicht untergehen oder falschen Prioritäten folgen, benötigen sie konkrete Orientierung.  Sven Lüngen und Margarete Volbers stellen Dir 44 kreative und anschauliche Impulse zur Verfügung, in denen sie zum Beispiel mit der Perfektion Salvador Dalís, der Entwicklungsfähigkeit von Arnold Schwarzenegger oder den belgischen Tauziehern der Olympischen Sommerspiele von 1920 zum Nachdenken über Den Führungshandeln anregen und Mut machen, neue Pfade in der Führung zu beschreiten.