Nachgefragt – bei Albert Thiele
Ich stelle Menschen gerne Fragen, weil mich ihre Arbeit, ihre Strategien, ihre Standpunkte oder ihre Thesen interessieren. Für meine Kolumne NACHGEFRAGT habe ich das Gespräch mit Dr. Albert Thiele gesucht. Er ist überzeugt, dass jeder mit einer überzeugenden Argumentation in der Lage ist, seine Position klar zu vertreten und kritische Einwände souverän zu parieren. Ich habe bei Albert Thiele nachgefragt, warum wir in schwierigen Gesprächen und täglichen Auseinandersetzungen in Stress geraten.
Mario: Wenn man Deinen Buchtitel „Argumentieren unter Stress“ auf sich wirken lässt, denkt man unweigerlich an sehr unterschiedliche Situationen – Streitgespräche, Konflikte oder Verbalattacken. Wie kommt es, dass wir in solchen Situationen in Stress geraten?
Albert: Stress verspüren wir in täglichen Auseinandersetzungen vor allem dann, wenn wir Situationen oder Ereignisse als bedrohlich und schwierig wahrnehmen. Als besonders stressig erleben Führungs- und Fachkräfte die Abwehr unfairer Angriffe, die Konfrontation mit kritischen Einwänden sowie Dominanzgebärden und Psychotricks, die auf den ersten Blick nicht zu durchschauen sind. Aggressive und boshafte Spielarten der Dialektik werden vor allem dann eingebracht, wenn brisante und emotional aufgeladene Themen diskutiert werden und die Fronten verhärtet sind. Darüber hinaus haben unfaire Taktiken noch eine andere Funktion: Der Angreifer möchte von den eigenen schwachen Sachargumenten ablenken und in jedem Falle recht behalten, auch wenn er objektiv nicht im Recht ist.
Wir können das ja mal an zwei Beispielen aus dem Projektalltag deutlich machen: Wegen gravierender Qualitätsmängel der ausgelieferten Projektergebnisse kommt es in einem Onlinemeeting (bei geöffneten Mikrofonen) zu einer lautstarken Diskussion. Der Vertriebschef greift Dich persönlich an und macht Dir heftige Vorwürfe: „Als Projektleiter trägst Du die alleinige Schuld für die schlechte Qualität der Projektergebnisse, die an den Kunden rausgegangen sind. Du bist doch völlig überfordert und hast Dein Team überhaupt nicht im Griff …“ Weitere Verbalattacken und Beleidigungen folgen. Und natürlich gerätst Du unweigerlich in Stress.
Anderes Beispiel: Du steckst in einer harten Verhandlung, weil Du mit Deinem Kunden Leistungen nachverhandeln musst. Dein neuer Verhandlungspartner aus dem Einkauf entpuppt sich im Videochat als „schwierig“: Er setzt Dich unter Druck, unterbricht ständig und spricht Dir durch Formulierungen wie „Wie lange sind Sie eigentlich schon Projektleiter?“ unterschwellig die Kompetenz ab. In der entscheidenden Phase der Verhandlung konfrontiert er Dich plötzlich mit Gegenforderungen. Die Zahlen, die er dabei nennt, sind vermutlich „fingiert“.


Dr. Albert Thiele ermutigt als Trainer, Fachbuchautor und Coach andere Menschen, ihre rhetorischen und argumentativen Fähigkeiten zu verbessern. Seine Erkenntnisse als Coach und die besten Tools der Rhetorik und Argumentation hat er in verschiedenen Publikationen zusammengefasst. Sein wichtigster Titel ist „Argumentieren unter Stress“, der inzwischen fast 140.000 Mal verkauft wurde.
Mario: Klar, in solchen Situationen gerät man unweigerlich in Stress. Aber wie schafft man es, auch unter Stress sachgerecht zu argumentieren, also sich im kontrovers geführten Gespräch zu behaupten?
Albert: Die „ars dialectica“ gliedert sich in zwei Bereiche: die Frieddialektik und die Kampfdialektik. In der Frieddialektik, also der fairen Dialektik, geht es um die Kunst, andere zu überzeugen und Sachprobleme im Dialog zielgerichtet zu lösen. Wenn Du beispielsweise in einer Videokonferenz einen Kompromiss erreichen willst, der von allen Beteiligten oder von der Mehrheit getragen wird. Oder Du präsentierst vor einem Kundenkreis einen Lösungsvorschlag, der in der anschließenden Besprechung auf die Bedürfnisse des Kunden zugeschnitten wird. In solchen Fällen müssen wir komplexe Überzeugungsarbeit leisten.
Bei der Kampfdialektik steht das Ziel im Vordergrund. Man will in der Argumentation siegen, recht behalten und die eigene Position unter allen Umständen durchsetzen. Letztlich ist es die Kunst, recht zu behalten, auch wenn man die schwächeren Sachargumente hat. Während es bei der Frieddialektik nur Sieger gibt, gibt es bei der Kampfdialektik Sieger und Verlierer, die Feinde werden können.
Mario: Ein prominentes Beispiel für einen Kampfdialektiker dürfte Donald Trump sein, schließlich sind ihm alle (boshaften) Mittel recht, um dem Gegenüber eine Niederlage zu bereiten und seine Ziele durchzusetzen.
Albert: Donald Trump setzt in kontroversen Auseinandersetzungen auf aggressive Rhetorik, Fake News, bewusste Regelverletzungen und Emotionalisierung, um Gegner zu attackieren und die Oberhand zu behalten. Er greift dabei auf ein wahres Arsenal unfairer Taktiken, subtiler Manipulation und Psychotricks sowie harter Schlagfertigkeitstechniken zurück. Diesen unfairen Taktiken habe ich in meinem Buch mehrere Kapitel gewidmet, denn es lohnt sich aus verschiedenen Gründen, das Repertoire unfairer Techniken auf dem Radar zu haben.
- Du kannst Dich wirkungsvoll schützen, wenn Du unsachliche Spielarten früh erkennst und und Konterstrategien beherrschst.
- Es gibt Situationen, in denen Kampfdialektik hilfreich oder gar geboten sein kann. Denke an kontroverse Auseinandersetzungen mit Fundamentalkritikern, die Dich massiv angreifen und Dich persönlich provozieren und beleidigen. In diesen Fällen kann ein rhetorischer Befreiungsschlag durch eine harte schlagfertige Retourkutsche wirkungsvoll sein
Schlagfertigkeit, verknüpft mit einem Gegenangriff, ist häufig die beste Verteidigung. Wer dabei Witz und Humor einsetzen kann, hat im Regelfall die besseren Karten.
Mario: Zurück zu unserem Beispiel, in dem uns der Kollege aus dem Vertrieb frontal angegriffen und mir als Projektleiter den Schwarzen Peter für die Qualitätsmängel der Projektergebnisse zugeschoben hat.
Der Kollege macht mir massive Vorwürfe und kritisiert meine Führungsfähigkeiten. Ich bin so perplex, dass mir in diesem Moment die Worte fehlen. Auf der Heimfahrt fällt mir dann eine passende Retourkutsche ein. Leider einige Stunden zu spät.
Albert: Was einem normalerweise in einer solchen Diskussionsrunde fehlt, ist eine schlagfertige Reaktion, also die Fähigkeit, im richtigen Moment eine passende Antwort zu bringen und sie – falls möglich – geistreich, witzig und situativ angemessen zu formulieren. Ein Gütesiegel der Schlagfertigkeit besteht darin, dass man auf eine Frage, einen Einwand oder einen Angriff schnell, treffend und originell antworten kann. Schlagfertigkeit ist damit eine Fähigkeit, die sowohl in der Fried- wie in der Kampfdialektik ihren Platz hat.
Mario: Kann man Schlagfertigkeit überhaupt trainieren?
Viele propagieren bloße Schlagfertigkeitstechniken. Das greift meiner Ansicht nach zu kurz. Die praktischen Anwendungssituationen sind zu komplex und vielfältig, um witzige und schlagfertige Retourkutschen schematisch einsetzen zu können. Auf Killerphrasen eines Geschäftsführers oder eines wichtigen Kunden wirst Du anders reagieren müssen als auf unsachliche Spielarten im privaten Bereich. Nur schlagfertig zu sein, ist also in vielen Situationen zu wenig: Ein Argumentationstraining für schwierige Szenarien sollte einerseits darauf zielen, sich vor Beleidigungen, Polemik und Rabulistik zu schützen und einem mentalen „Schachmatt-Effekt“ entgegenzuwirken. Andererseits sollte man in der Lage sein, die Kommunikation aufrechtzuerhalten, das Klima nicht unnötig zu belasten und einen Dialog weiterzuführen.
Dialektik ist schließlich die Kunst zu gewinnen, ohne zu siegen. Wer das dialektische Instrumentarium beherrscht, wäre zwar in der Lage zu siegen. Er verzichtet jedoch darauf, den anderen klein zu machen und „abzubügeln“, damit er sich nicht ohne Not „Feinde“ schafft. Bei strittigen beruflichen Disputationen fährt man am besten mit dem Grundsatz, hart um den richtigen Weg und die besten Sachargumente zu ringen und gleichzeitig die emotionalen Bedürfnisse der Beteiligten zu beachten. Dies verlangt auch, wirkungsvolle Argumentations- und Lenkungstechniken verfügbar zu haben, um unfaire und häufig zeitraubende Spielarten rasch neutralisieren zu können.
Mario: Lieber Albert, herzlichen Dank, dass ich bei Dir nachfragen durfte.


Argumentieren unter Stress
Souverän mit Kritik umgehen Im Meeting zu spät gekommen, unfaire Angriffe von Kollegen und Vorgesetzten, Gehaltsverhandlungen oder emotional aufgeladene Debatten – gerade im Job gerät man schnell in unangenehme Situationen. In seinem Ratgeber „Argumentieren unter Stress“ gibt der Kommunikationstrainer Albert Thiele eine praxisnahe Anleitung, wie Sie unfaire Angriffe früh erkennen, geschickt abwehren und gleichzeitig den Dialog aufrechterhalten.