Mit Mehrdeutigkeit leben
Ambiguitätstoleranz
bezeichnet die Fähigkeit, Zweideutigkeit, Mehrdeutigkeit, Widersprüchlichkeit, Unsicherheit und Komplexität in einer Situation zu akzeptieren und damit umzugehen. Eine Person mit hoher Ambiguitätstoleranz kann eine unklare Situation aushalten, sich auch in einem ungewissen Umfeld zurechtfinden und dort effizient arbeiten.
Der Begriff wird auch mit Unsicherheits- oder Ungewissheitstoleranz übersetzt. Damit ist gemeint, Gegensätzlichkeiten, mehrdeutige Informationen, kulturell bedingte Unterschiede oder Unstimmigkeiten, die schwer verständlich sind oder sogar inakzeptabel erscheinen, wahrzunehmen und zu tolerieren. Diese Toleranz spielt bei der Persönlichkeitsentwicklung und beim sozialen Lernen eine wichtige Rolle. Sie ist auch eine Voraussetzung für die interkulturelle Kompetenz eines Menschen.
Ambiguität (lat. ambiguitas) = Zweideutigkeit, Mehrdeutigkeit, Doppelsinn
Was denn nun?
Dass es in der modernen Welt immer weniger Gewissheiten gibt, verunsichert viele Menschen. Gut oder böse, richtig oder falsch, schwarz oder weiß, Freund oder Feind? Dass die Dinge oft wenig eindeutig sind, halten sie nur schwer aus – manchmal folgen sie Populisten, die es ihnen einfach machen. Frau mit Bart? Oder Mann mit Kleid? Thomas Neuwirth alias Conchita Wurst gewann den Eurovision Song Contest 2014 für Österreich. Er verstörte viele Menschen vor ihren Fernsehern. Sie fanden es unerträglich. Sie wollten entweder Mann oder Frau. Andere fühlten sich zwar befremdet, fanden das Spiel mit dem Mehrdeutigen dann aber doch ganz interessant. Die Jury jedenfalls war von dem künstlerischen Auftritt überzeugt – und zeigte damit „Ambiguitätstoleranz“.
Ambiguitäts-Intoleranz
Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit bezeichnet die generelle Unfähigkeit eines Menschen, Urteile in der Schwebe zu halten oder zu nuancieren. Sie wird meist als eine relativ überdauernde persönliche Einstellung angesehen und steht in engem Zusammenhang mit dem Symptom der autoritären Persönlichkeit. Intoleranz gegenüber Ambiguität steht offensichtlich in engem Zusammenhang mit der Anfälligkeit eines Menschen, sich vorschnell mit Urteilen festzulegen, sobald mehrere Deutungsmöglichkeiten vorliegen.
Der Fremde ist eine problematischere Kategorie als der Feind. Der Feind ist eindeutig auf der anderen Seite, und der Freund ist eindeutig auf meiner Seite. Aber der Fremde ist weder Feind noch Freund, sondern eine schwer zuzurechnende Kategorie. Der Fremde ist immer etwas Ambiges.
Ambiguitäts-Intoleranz entsteht leicht auf dem Nährboden persönlicher Unsicherheit und deren Abwehr.
Psychische Entlastung durch einfache Antworten
Eine Schlüsselfrage der heutigen Gesellschaft ist der Umgang mit Zuwanderung. Vom Wunsch nach Eindeutigkeit ist es nicht weit zu den einfachen Antworten. Wer nicht die Konstitution hat, Ambivalenzen auszuhalten, hat durch Vereinfachung eine psychische Entlastung als Gewinn. Er hat aber auch einen Verlust. Es entgeht ihm die Möglichkeit, die Wirklichkeit in ihren verschiedenen Schattierungen wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Dies ist auch eine Behinderung. Beispiel: Man kann Migranten als Konkurrenten um Wohnungen sehen – oder auch als bereichernde Boten von anderen Kulturen und als nette, freundliche Menschen. Beides gleichzeitig zu sehen und auszuhalten und sich eben nicht auf die reine Ablehnung zurückzuziehen, das ist Ambiguitätstoleranz. Doch viele entscheiden sich reflexartig für eine Seite.


Foto: Matjaz Slanic auf istockphoto
Ambiguität und Radikalität
Wenn es um Zuwanderer geht, haben Populisten besonders leichtes Spiel bei Menschen, die Mehrdeutigkeit nicht ertragen können oder wollen. Einfache Antworten sind eine Möglichkeit, Ambiguität gar nicht erst aufkommen zu lassen. Insofern ist Radikalität eine zur Ambiguität entgegengesetzte Haltung.
Religionen meiden die Kultur der Ambiguität
Ganz gleich, ob Katholizismus, Protestantismus oder Judaismus:
Sie alle hängen je einer Reihe von Ritualen an, die Ungewissheit verringern sollen, weil Menschen naturgemäß auch ein Bedürfnis nach Gewissheit haben. Mit den Ritualen entstehen starke Stützen, um den Weg durchs Leben zu finden.
Was wurde aus der Kultur der Ambiguität? Religionen werden intoleranter. Möglichst eindeutige Auslegungen werden heute häufig vorangestellt. Dieses Vereindeutigen führt zur Verhärtung religiöser Positionen bis hin zum Fanatismus. Ähnliches gilt für die Politik.
Diplomatie braucht Raum für Mehrdeutigkeit
Diplomatie ist darauf angewiesen, dass man Dinge nicht ganz direkt ausspricht, sondern eher andeutet und dem anderen die Möglichkeit lässt, auf entsprechende Weise darauf zu reagieren. Denn durch das allmähliche Sich-Annähern entstehen Kompromisse, nicht durch das Aufdrängen des Willens einer Seite. Diplomatische Botschaften müssen eben mit einem gewissen Spielraum für Mehrdeutigkeit formuliert werden. Sonst ist es nicht Diplomatie, sondern Machtpolitik. Ebenso wie die Diplomatie leben auch die großen Texte der Menschheit davon, dass sie nicht eindeutig auslegbar sind, sondern mehrdeutig.
Gesetzestexte enthalten Ambiguität
So auch der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes, der die Menschenwürde schützt.
Alle Sätze, die über Jahrhunderte Gültigkeit haben, müssen eine gewisse Ambiguität aufweisen. Sonst sind sie mit einem Verfallsdatum versehen. Wenn wir sagen, die Würde des Menschen ist unantastbar, dann ist das ein Satz, der sehr auslegungsfähig ist. Das bedeutet aber auch, dass dieser Satz für viele Zeiten dem jeweiligen Zeitverständnis angepasst werden kann. Wahrscheinlich verstehen wir heute unter der Würde des Menschen nicht mehr genau das Gleiche wie 1948.
Je mehr Ambiguität, desto besser?
Würde völlige Mehrdeutigkeit den Menschen ein besseres Zusammenleben ermöglichen? Nein, schrankenlose Ambiguität funktioniert nicht. Es entstünde Chaos, Anarchie und Korruption. Bestimmte Grundlagen müssen feststehen und dürfen nicht infrage gestellt werden.
Ambiguität in der Beziehung
Auch in privaten Beziehungen hängt vieles davon ab, wie viel Mehrdeutigkeit die Partner tolerieren. In jeder menschlichen Beziehung ist Ambiguität enthalten – je enger die Beziehung wird, desto mehr. Im Grunde lieben wir unsere Partner, und gleichzeitig sind wir ab und an enttäuscht von ihnen oder ärgern uns über sie. Die Kunst ist, daraus keine kurzschlüssigen Konsequenzen zu ziehen. Die Ehe als lebenslange Partnerschaft ist eben ein Bund fürs Leben, der auch schwierige Zeiten überdauert. Das Institut der Ehe erkennt die Ambiguität von Beziehungen an. Es geht darum, sich auch dann treu zu sein, wenn man eigentlich gar keine Lust mehr darauf hat. Hieran wird deutlich, dass Ambiguität eine essenzielle Eigenschaft von Beziehung ist.
Ambiguität im Eltern-Kind-Verhältnis
Ambiguität betrifft unser ganzes Zusammenleben mit anderen Menschen und fängt damit an, dass wir als Kind mit Eltern aufwachsen, die wir lieben. Aber wir lieben sie ja auch nicht immer. Es gibt Momente, in denen lieben wir sie mehr oder eben auch weniger. Das zieht sich durch unser ganzes Leben. Diese Erfahrung mit unseren Mitmenschen zu haben ist alltäglich und ihr ist nicht zu entkommen.
Ambiguitätstoleranz braucht es in vielen Lebenslagen und sie ist auch Schlüssel für die Erziehung von Kindern und Jugendlichen.
Ambiguitätstoleranz trainieren?
Man kann Ambiguitätstoleranz lernen oder verlernen. Es wurde noch kein Trainingsprogramm für Ambiguitätstoleranz entwickelt. Wir müssen alle Chancen nutzen, Ambiguitätstoleranz zu vermitteln!
Kunst, Musik, Literatur oder Theater sind hervorragende Möglichkeiten, Ambiguität zu erfahren. Musikstücke, Gemälde oder Gedichte sind selten einseitig, sie lassen Raum für Deutung und Perspektivwechsel. Vielschichtige und uneindeutige Wahrnehmungen sind Teil unserer Lebendigkeit und wollen als solche angenommen werden.
(Internet: Ambiguitätstoleranz – Lernen, mit Mehrdeutigkeit zu leben)


Mario Neumann
Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.