Gefühle unterscheiden
Gefühle sind etwas, was alle Menschen haben. Liebe, Freude, Trauer, Ekel, Eifersucht, Neid, Hass, Wut, Angst und Scham, Verachtung und Verzweiflung, Hoffnung …
Manchmal überwältigen uns die Gefühle, manchmal sind sie so schnell vorbei, dass wir erst später bemerken, sie überhaupt gehabt zu haben. Manche Gefühle gehen gerne Verbindungen mit anderen ein. Und wenn wir eine „Stimmung“ oder auch „Verstimmung“ haben, wird unser ganzes Denken und Handeln von einem Grundgefühl „bestimmt“. Es gibt wohl Hunderte von Gefühlen mitsamt ihren Mischungen und Überlagerungen, Mutationen und Variationen. Es gibt so unendlich viele Nuancen von Gefühlen, dass man jeweils nur schwer das genau treffende Wort findet.
Unsere menschliche Natur hat die Tendenz, die angenehmen Gefühle halten zu wollen und die unangenehmen gar nicht erst haben zu wollen – wie zum Beispiel Empörung, Entrüstung, Verbitterung, Ärger, Groll, Zorn, Bosheit, Unmut. Wir kennen das Wort „Ingrimm“, es bedeutet so viel wie Grimm, der innerlich rumort.
Dies alles sind Gefühle, die in unserem gesellschaftlichen Leben nicht gern gelitten sind. Wir werden diese Gefühle also lieber wegschließen, mit uns selbst ausmachen, denn sie führen uns nicht weiter. Wir sammeln sie an, bis die Sammlung aus den Nähten platzt – falls wir die darin steckende Energie nicht in soziale Handlungen transformieren.
Gefühle können unversehens umschlagen oder unmerklich in andere übergehen. Es gibt Gefühle,die sich verkapseln und Jahre oder Jahrzehnte später plötzlich, mit großer Vehemenz hervorkommen. Je genauer wir auf unsere Gefühle achten, desto mehr Nuancen, Zwischenformen, Übergänge und Verkettungen entdecken wir – ein ungeheurer Reichtum, den zu inventarisieren unser Leben nicht ausreicht. Nicht zuletzt, weil er mitwächst, wenn wir wachsen.
(Vgl. Robert C. Solomon, 1942 -2007, US-amerikanischer Philosoph)


Foto: Matjaz Slanic auf istockphoto
Primärgefühle
- sind Reaktion auf einen äußeren Reiz oder eine Situation
- sind klare Gefühlsäußerungen
- überkommen den Menschen
- wirken auf andere (empathische) Menschen ansteckend
- äußern sich kurz, sind dann vorbei
- sind Energie für das Handeln
Sekundärgefühle
- stellvertretende Reaktion, Vermeidung ursprünglicher Gefühle
- sind gemischte, diffuse Gefühle
- stellen etwas zur Schau, sind manipulativ
- langweilen die Mitmenschen, machen sie überdrüssig
- sind beharrlich, kehren immer wieder
- sind Ersatz für das Handeln
Ursprüngliche und abgeleitete Gefühle
In der Teamdynamik wollen wir drei Arten von Gefühlen unterscheiden, die sich im Laufe des Prozesses äußern können:
- Primärgefühle (auch: ursprüngliche, natürliche Gefühle)
- Sekundärgefühle (auch: abgeleitete Gefühle)
- Fremdgefühle (auch: übernommene Gefühle)
Primärgefühle
Ein Primärgefühl ist daran zu erkennen, dass es sich als eine ursprüngliche, reine und unverfälschte Reaktion auf ein Geschehen oder einen Reiz aus der Umgebung einstellt. Das Wesentliche daran ist sowohl die ungetrübte Reinheit als auch die Totalität, mit der dieses Gefühl die Person ergreift: reine Freude, echte Liebe, blanker Hass, wilde Wut, tiefe Trauer oder seelischer Schmerz. Impulsiv und unkontrollierbar übermannt das Gefühl die Person, der es im eigentlichen Sinn nicht hat, sondern verkörpert.
Primärgefühle sind deutlich spürbar und damit von den beobachtenden Menschen als solche erkennbar. Das echte Primärgefühl wirkt im wahrsten Sinne des Wortes ansteckend, man kann sich seiner Wirkung nicht entziehen und wird zutiefst davon berührt. Die Dauer eines Primärgefühls ist (im umgekehrten Verhältnis zu seiner Intensität) sehr kurz. Es ist ein Zustand, der sich nicht konservieren und festhalten lässt, der in dieser reinen Form ganz an das augenblickliche Erleben gebunden ist.
(Vgl. Grochowiak/ Castella 2001, 37)
Jedes Gefühl geht vorbei, aber nur dadurch, dass man es zulässt und ihm Ausdruck verleiht. Andernfalls verbleibt es bei seinem Besitzer, es verkapselt sich und wird vergessen, um irgendwann, unverhofft, wieder auf den Plan zu treten.
Sekundärgefühle
Gegenüber dem Primärgefühl als einer unverfälschten und klaren Gefühlsanwandlung und -äußerung handelt es sich beim Sekundärgefühl um eine stellvertretende Reaktion, die aus Gründen (vermeintlicher) gesellschaftlicher Akzeptanz dem eigentlichen primären Gefühl vorgeschoben wird. Man will sich dem ursprünglichen Gefühl nicht stellen, man schämt sich oder man will mit dem Sekundärgefühl eine unangenehme Handlung vermeiden. Beispiele:
- Man fühlt Verzweiflung, anstatt zu handeln und die Scheidung herbeizuführen, da man dies den Eltern oder Kindern nicht zumuten möchte.
- Hinter einer geäußerten und dann durchaus auch selbst empfundenen Trauer steht als das primäre, aber verborgene Gefühl eine entsetzliche Wut. Diese zu äußern kann der Betreffende jedoch mit seinem Bild von einem zivilisierten Menschen nicht vereinbaren.
- Umgekehrt kann Wut auch die Vermeidung von Trauer sein, die jemand nicht zugeben möchte, weil er sich der Trauer schämt.
Sekundärgefühle sind Gefühle, die dazu dienen, den derzeitigen Status eher aufrechtzuerhalten, als sich den darunter verborgenen primären Gefühlen zu stellen. Denn die primären Gefühle sind oft schmerzhaft, und Menschen neigen dazu, sie zu vermeiden und auf sekundäre Gefühle auszuweichen. Meistens ist sich ein Gefühlsträger gar nicht bewusst, dass das, was er fühlt, nicht das ursprüngliche, echte Gefühl ist.
Da Sekundärgefühle also nicht identisch mit dem tatsächlich empfundenen Gefühl sind, fällt auch ihre Wirkung auf den Mitmenschen anders aus als im Fall der ansteckenden Primärgefühle: Sekundärgefühle wirken auf die Mitmenschen eher langweilend, machen sie müde und überdrüssig. Die Sekundärgefühle äußern sich bei den Anteil nehmenden Beobachtern unter Umständen in dem diffus empfundenen Gefühl, irgendwie eingreifen, irgendetwas tun zu müssen. Nicht zuletzt ziehen sie eine seltsame Form der Irritation und Verwirrung nach sich, da ihnen die kristalline Reinheit der Primärgefühle abgeht, an deren Stelle sie etwas Verstelltes, Künstliches, Manipulatives zur Schau stellen.
(Vgl. Grochowiak/ Castella 2001, 37 f.)
Man spricht auch von „abgeleiteten Gefühlen“. Bert Hellinger unterscheidet die ursprünglichen Gefühle von den abgeleiteten, die als Ersatz für die ursprünglichen dienen – Trauer, Wut, Hass, Neid.
Ein ursprüngliches Gefühl dient dem Handeln, ein abgeleitetes Gefühl dient als Ersatz für das Handeln
Daher bringt es wenig, in einer Systemaufstellung oder einer Systemischen Inszenierung mit einem abgeleiteten Gefühl zu arbeiten, denn damit verstärkt man nur das Beharren im Nichthandeln.
(Vgl. Hellinger, 2002, 42, f.)
Fremdgefühle
Die Kategorie der Fremdgefühle umfasst Gefühle, die von anderen übernommen worden sind – etwa im Zuge einer Identifizierung oder einer transgenerationalen Weitergabe. Einen Hinweis darauf, dass Gefühle „übernommen“ sind, bekommt man daraus, dass der jeweilige Gefühlszustand aus der tatsächlichen Lebenssituation heraus kausal nicht erklärt werden kann.
Im allgemeinen handelt es sich bei Fremdgefühlen um Gefühle, die in Nachfolgegenerationen von der Vorgängergeneration übernommen werden. Sie können mitunter über mehrere Generationen hinweg tradiert werden. Übernahmen dieser Art werden insbesondere dadurch begünstigt, dass der „ursprüngliche Besitzer“ ein bestimmtes Gefühl nicht zulassen, äußern oder ausdrücken konnte.
Fremdgefühle müssen nicht auf das einzelne Individuum beschränkt sein, sondern können als eine Form der Grundgestimmtheit auch das dominante Klima einer ganzen Familie, Firma oder Institution bestimmen: Ohnmacht, Resignation, Aggression usw. Dementsprechend zeigen Fremdgefühle eine hartnäckig anhaltende Charakteristik, das heißt, sie können den Rang eines Dauerzustandes oder einer Grundbefindlichkeit einnehmen, sind offen oder unterschwellig ständig anwesend und prägen die Grundstimmung eines Menschen oder eines soziokulturellen Systems (Berufsgruppe, Glaubensgemeinschaft, Partei etc.). Ein Fremdgefühl zeigt sich an einem dauerhaften Gesichtsausdruck oder einer andauernden Stimmlage.
Im Unterschied zu den mitunter auch sehr lang andauernden, entnervenden Sekundärgefühlen haftet der Wirkung von Fremdgefühlen etwas Lähmendes an: Als Beobachter bekommt man keinen rechten Überblick über die Situation, als Moderator kommt man nicht recht voran. Die erprobten Interventionen führen nicht weiter. Hier könnten dann Systemaufstellungen weiterhelfen und einen Lösungsweg aufzeigen.
(Vgl. Grochowiak/ Castella 2001, 38)


Mario Neumann
Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.