Well Team Times Nr. 254

Der Gefühlskompass

Von am 10.01.2022

Ein weitverbreiteter Mythos zum Thema Gefühle besagt, dass diese irrational und unverständlich sind. Das zeigt sich allein schon darin, dass wir den Begriff „Gefühl” sehr vage verwenden – und zwar für so ziemlich alles, was sich dem rationalen Verständnis entzieht. Klassische Beispiele: „Ich habe das Gefühl, dass du mich anlügst” oder „Ich habe kein gutes Gefühl dabei”. Doch wofür haben wir Gefühle? Sind sie wirklich so unlogisch und unpraktisch wie gemeinhin angenommen? Oder verbirgt sich hinter unseren emotionalen Wogen vielleicht eine geheime Logik, eine unsichtbare Gesetzmäßigkeit, die wir bislang noch nicht entdeckt haben?

Vivian Dittmar bezeichnet sich als Impulsgeberin für kulturellen Wandel. Sie hat sich auf Forschungsreise begeben, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Heraus kam ein bestechend klares Modell, das die einzelnen Gefühle in einen sinnvollen Zusammenhang stellt. Es zeigt auf, wie Gefühle entstehen und wofür sie gut sind.

Fünf Grundgefühle

Der Gefühlskompass ist ein innerer Navigator, der uns in den Stürmen des Lebens die notwendige Orientierung bietet. In ihm sind statt der vier Himmelsrichtungen vier Grundgefühle angeordnet – Wut, Trauer, Angst und Freude.
In der Mitte des Kompasses, wo die Nadel festgeschraubt wäre, befindet sich das fünfte Gefühl, die Scham. Sie unterscheidet sich von den vier äußeren Gefühlen darin, dass sie sich nach innen richtet, also auf uns selbst.

Bei diesen fünf Grundgefühlen handelt es sich nicht um eine willkürliche Auswahl. Vielmehr befähigen uns diese Gefühle in ihrer Kombination, mit allen Situationen im Leben angemessen umzugehen. Warum das so ist und was es mit genau diesen Gefühlen auf sich hat, wird deutlich, wenn wir uns die einzelnen Gefühle näher ansehen.

Wut: klare Positionierung

Wut ist ein Gefühl, das immer dann auftritt, wenn uns etwas gegen den Strich geht. Wut ist dann ein richtig gutes Gefühl, wenn wir genau wissen, was uns nicht passt und es auch in unserem Einflussbereich liegt, es zu verändern. Ein Beispiel: Ich komme nach Hause und stelle fest, dass der bestellte Pullover in der falschen Größe geliefert wurde. Die richtige Dosis Wut gibt mir genau das richtige Maß Energie, um mich beim Versandhaus zu beschweren, das Ding wieder einzupacken und auf den Rückweg zu schicken. Sehr praktisch.

Richtig unpraktisch ist Wut hingegen dann, wenn ich an einer Situation nichts ändern kann. Etwa wenn ich mein Handy verloren habe oder mein Lieblingspullover ein Loch bekommen hat. Oder wenn der Kollege wieder mal die Deadline nicht eingehalten hat. Hier brauchen wir  andere Gefühle – zum Beispiel Trauer.

Trauer: annehmen, was ich nicht ändern kann

Im Gegensatz zu Wut versetzt Trauer uns nicht in Handlungsbereitschaft, sondern sie lässt uns zur Ruhe kommen. Trauer ist ein Gefühl, das zwar auch auftritt, wenn etwas nicht so ist, wie wir es gerne hätten. Sie ist jedoch dazu da, uns zu helfen, diese Tatsache anzunehmen, statt sie verändern zu wollen. Eben wenn mein Pullover ein Loch bekommen hat oder mein Handy weg ist. Und natürlich auch, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist – oder ein Kollege, den ich richtig gerne mag, die Firma verlässt.

Trauer hilft uns, mit all jenen Situationen angemessen umzugehen, die uns zwar nicht gefallen, die wir jedoch nicht ändern können. Es gibt allerdings auch Situationen, die wir weder annehmen noch verändern können. Hier braucht es nochmal ein anderes Gefühl – zum Beispiel
Angst.

Foto: Matjaz Slanic auf istockphoto

Angst: sich auf das Unbekannte einlassen

Dieses Gefühl mag keiner haben: Angst.
Sie steht für Lähmung, Handlungsunfähigkeit, Ausgeliefertsein und Ohnmacht. Doch auch Angst ist ein Gefühl das nicht entstanden ist, um uns das Leben schwer zu machen, sondern erfüllt eine wichtige Funktion. Auch Angst ist eine Kraft, wenn wir wissen, wie wir sie nutzen können. Da Angst in Situationen auftritt, die wir weder annehmen noch verändern können, ist Angst ein Signal für das Unbekannte. Das Vertraute versagt hier, es kann nur etwas komplett Neues geschehen. Dieses Unbekannte kann eine Gefahr bergen, es kann aber auch eine große Chance sein. Fakt ist, wir wissen es nicht, bis wir uns darauf einlassen. Genau hierbei hilft uns Angst. Sie ist ein Signal für die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. Und sie kann uns über diese Grenze tragen.

Scham: sich selbst in Frage stellen

Manchmal ist es auch an der Zeit, sich selbst in Frage zu stellen. Hierbei ist ein weiteres, zuweilen unbeliebtes Gefühl von zentraler Bedeutung: die Scham.
Sie lässt uns in den Spiegel unserer eigenen Werte blicken und fordert uns auf, zu überprüfen, inwieweit wir unseren Überzeugungen treu sind. Scham ist der Blick nach innen, weshalb dieses Gefühl in der Mitte des Kompasses angesiedelt ist. Haben wir den prüfenden Blick erst auf uns selbst gelenkt, können wir dann jedes andere Gefühl auch auf uns selbst anwenden:
die Wut, wenn wir uns einfach mal einen Ruck geben müssen, die Trauer, wenn es gilt, Anteile anzunehmen, auch wenn sie uns nicht gefallen, oder die Angst, wenn wir Aspekten ins Auge sehen, mit denen wir nicht umzugehen wissen. Und natürlich können wir auch Freude empfinden über das, was wir dort entdecken: Vielleicht halten andere etwas an uns für falsch, aber wir stehen dazu!

Freude: wertschätzen, was mir gefällt

Auch im Außen gilt Freude jenen Dingen, die wir als richtig empfinden oder beurteilen. Deshalb ist sie auch das einzige Gefühl im Kompass, das wir als positiv einordnen: Allein die Freude gilt Umständen, die unseren Bedürfnissen entsprechen. Jedes der anderen Gefühle gilt hingegen Situationen, die anders sind, als wir sie gerne hätten. Freude ist Wertschätzung. Sie sagt: Das gefällt mir! So will ich es haben! Das habe ich mir gewünscht! Doch nicht immer empfinden wir Freude, wenn etwas so ist, wie wir es haben wollen. Allzu oft nehmen wir etwas für selbstverständlich und versäumen es, das weiche Bett, das erfolgreiche Projekt, das leckere Abendessen als Anlass zur Freude zu nehmen. Woran liegt das? Um das zu verstehen müssen wir uns der Frage zuwenden, wie Gefühle überhaupt entstehen.

Wie entsteht ein Gefühl?

Die landläufige Meinung zum Thema Gefühle besagt, dass diese irrational sind, quasi aus dem nichts auftauchen und ebenso mysteriös auch wieder verschwinden. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass dies nicht zutrifft. Gefühle werden erzeugt, und zwar von uns. Es ist unser Unbewusstes, das die Situationen interpretiert und dadurch die Gefühle entstehen lässt.
Und zwar jedes Gefühl durch eine andere Interpretation:

  • Wut – durch die Interpretation, dass etwas “falsch” ist
  • Trauer –  dass es “schade” ist
  • Angst – dass es “furchtbar” ist
  • Freude – dass es “richtig” oder “schön” ist
  • Scham – hingegen wird ausgelöst durch den Gedanken, dass ich selbst vielleicht falsch gehandelt habe.

Diese Grundinterpretationen sind wie Knöpfe in unserem Kopf, die wir bedienen und dadurch Gefühle erzeugen. Da uns dieser Prozess jedoch in der Regel nicht bewusst ist, kommt es uns tatsächlich so vor, als würden unsere Gefühle aus dem Nichts entstehen.

Vorsicht Schattengefühle

Besonders problematisch ist es, wenn unsere Gefühle sich nicht als positive Kräfte zeigen, die eben genau das sind, was wir in der jeweiligen Situation brauchen, sondern in ihrem Schattenausdruck. Um es konkret zu machen:
Statt für Klarheit zu sorgen, wird Wut in ihrem Schattenausdruck zerstörerisch – ein Phänomen, das wir alle irgendwo schon mal erlebt haben. Trauer hingegen führt in ihrem Schattenausdruck nicht zu positiver Annahme der Situation, sondern zu depressiver Passivität. Angst ist ganz und gar nicht schöpferisch, wenn sie sich in ihrem Schatten zeigt.
Im Gegenteil: Sie lähmt uns wie das sprichwörtliche „Kaninchen vor der Schlange“. Scham in ihrem Schattenausdruck verleitet uns dazu, kein gutes Haar mehr an uns zu lassen. Wir zerfleischen uns buchstäblich mit Selbstvorwürfen. Die Scham soll uns aber in einer gesunden Selbstreflexion unterstützen.

Mario Neumann

Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.