Agilität

Angst vor Kontrollverlust

Von am 02.12.2024

Alle reden von Agilität, doch kaum ein Unternehmen setzt sie ernsthaft um. Dabei spricht doch einiges dafür. Sie verkürzt Entscheidungswege und senkt Reaktionszeiten. Sie erlaubt kreatives Denken und schnelles Manövrieren in Sackgassen. Sie sorgt für mehr Mitsprache. Agilität ist super! – Doch genau das nervt. Denn Agilität tritt auf wie ein neues Wundermittel. Und das schürt in den Chefetagen die Angst vor Kontrollverlust.

„Ja, ich verstehe schon. Wir brauchen das. Und ich finde das ja auch gut, dass die Mitarbeitenden mehr Freiheiten bekommen, um schneller auf Veränderungen reagieren zu können. Aber …“ Mirko verdreht die Augen. Dieses „Aber“ begegnet ihm fast täglich, seit er bei einem großen Versicherungskonzern den Job als Agile Coach angetreten hat. Der Konzern hatte sich vor einigen Monaten an das agile Experiment gewagt und Mirko sollte sich um die Arbeitsprozesse und die optimale Gestaltung der Zusammenarbeit kümmern. Doch die Führungsetage lässt ihm gegenüber immer wieder durchblicken, dass es schon gut wäre, auch ein wenig auf die Regeln zu achten, damit diese ganze Agilität nicht außer Kontrolle gerät.

Es stellt sich die Frage, was an Agilität nervt. Die Antwort ist einfach: Dass alles, wirklich alles für sie spricht. Agilität fördert Flexibilität und Anpassungsfähigkeit in Projekten, ermöglicht schnellere Reaktionen auf Veränderungen und verbessert die Zusammenarbeit im Team. Dadurch können Unternehmen effizienter arbeiten, Innovationen schneller umsetzen und die Kundenzufriedenheit steigern. Agilität ist super! Und genau das nervt. Agilität tritt auf wie ein neues Allheilmittel. Doch was passiert, wenn Unternehmen dieses Wundermittel einnehmen wollen? Sie entwickeln eine Unverträglichkeit. Denn Agilität ist nicht vorgesehen in Unternehmen. In Agilität stecken all die Faktoren, die sich Leistungskennzahlen und anderen Messgrößen verweigern.

Unternehmen haben typischerweise hart daran gearbeitet, wichtige Erfolgsfaktoren an Kennzahlen zu fesseln. Und plötzlich sollen Spontanität, Kreativität und Ungeplantes bestimmen, wo’s lang geht? Da ist breiter Widerstand vorprogrammiert.

Agilität ist ein radikaler Eingriff

In agilen Prozessen ändert sich vor allem eines: die Rolle des Chefs. Traditionelles Management beinhaltet oft direkte Kontrolle und eine transparente Befehlskette. Der agile Ansatz verlangt von Führungskräften künftig, ihre Mitarbeiter zu unterstützen und Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Ein Problem, das dabei oft zum Vorschein kommt, ist ein gewisses Misstrauen gegenüber den eigenen Mitarbeitern. Das tief in der DNA eines Unternehmens eingepflanzte Gefühl, dass Menschen nur dann gut arbeiten, wenn sie einem klar geregelten Umfeld arbeiten.

Obwohl in vielen Unternehmen zunehmend erkannt wird, dass starre Regeln die notwendige Veränderungsfähigkeit hemmen, bleibt das Misstrauen gegenüber agilen Ansätzen nach wie vor groß. Den Menschen und den Konzepten der Agilität wird oft nicht ausreichend vertraut. Doch beides ist entscheidend, um die erforderlichen Veränderungen im Unternehmen zu initiieren. Ohne Vertrauen sind alle Veränderungsversuche zum Scheitern verurteilt und können nicht erfolgreich umgesetzt werden. Misstrauen wirkt wie ein mächtiger Ballast. Zudem trägt ein verbreitetes Missverständnis über Agilität dazu bei, dass der Durchbruch ausbleibt.

Foto: Library auf Pixabay

Ein falsches Verständnis von Agilität

Viele können es nicht mehr hören: Jeder möchte heute „agil“ sein. Agilität wird seit einigen Jahren als Heilmittel für so ziemlich alles im Unternehmen gesehen. So denken viele, dass Agilität automatisch zu einer höheren Mitarbeiterzufriedenheit führt, weil agile Strukturen viel Mitbestimmung erlauben. Oder aber Agilität größere Gewinne generiert, da so Ergebnisse schneller erzielt werden können. Beides ist so natürlich ziemlicher Quatsch.

Auf der anderen Seite ist der Begriff „agil“ durch die inflationäre Nutzung fast schon zum Unwort verkommen. Kritiker sehen in der Agilität ein Synonym für Planlosigkeit und Chaos, ein wildes Vor-sich-hin-wursteln, bei dem es keine Regeln gibt. Auch das ist natürlich Quatsch.

Aus der Perspektive des guten, alten, soliden Projektmanagements erscheint das agile Experiment natürlich etwas chaotisch: Alle reden miteinander, alle haben sich lieb, und alles kann ausprobiert werden. Alles kann, nichts muss. Klar, dass ein solches Verständnis von Agilität die Angst vor dem Kontrollverlust schürt, die Angst davor, dass Dir Deine ganze Mannschaft aus dem Ruder läuft. Und es deswegen so wichtig erscheint, diese Regellosigkeit rechtzeitig einzuhegen.

Agilität zum Fliegen bringen

Aber Agilität ist anders. Agil arbeiten bedeutet nicht, sich an neue Meeting-Formate (bspw. Daily Standups) zu gewöhnen und regelmäßig Prototypen zu zeigen und zu verbessern. Agilität ist auch keine Technik, die sich durch Anweisungen von ganz oben – par ordre du mufti – durchsetzen lässt. Im Gegenteil: Die Muftis müssen zurückstecken. Sie müssen ihren Mitarbeitern und deren Fähigkeiten vertrauen, um die gewünschte Schlagkraft und Schnelligkeit zu erreichen. Entscheidungen fallen künftig weniger dort, wo sich die hierarchisch-disziplinarische Macht konzentriert, sondern dort, wo das fachliche Know-how liegt. Dieser Ansatz setzt dem Selbstverständnis vieler Führungskräfte zu. Ihre Aufgabe sehen sie ja darin, zu prüfen, ob ihre Mitarbeiter ihre Aufgaben auch ordentlich erledigen.

Wer Agilität will, muss Kontrollverlust ertragen. Es bedeutet ja nicht, dass gleich alle tanzend durch den Wald springen. Agile Frameworks haben zwar nicht viele Regeln, aber diese sind strikt, beispielsweise in der agilen Softwareentwicklung: Die Dauer eines Sprints ist geregelt, außerdem ist auch fix, was in dieser Zeit zu erledigen ist. Läuft ein Sprint erstmal, dann gibt es keine Störung von außen, auch nicht vom eigenen Chef. Nichts also mit wildem Hin- und Hergehopse. Und schon gar nicht ein Setting, in dem es keine Regeln gibt.

Wirklich kontraproduktiv wird es, wenn Unternehmen in eine Scheinagilität abdriften. So werden Mitarbeitern beispielsweise Selbstorganisation und Eigenverantwortung versprochen und Scrum oder Kanban eingeführt. Es gibt Daily Standups und Retrospektiven. Doch am Ende trifft doch weiterhin der Chef die Entscheidungen.

Die agile Transformation braucht Zeit

Diese Abkehr von altgewohnten Strukturen und Arbeitsweisen verlangt Mitarbeitern wie Führungskräften viel Erneuerungsbereitschaft und Lernwillen ab. Vor allem Führungskräfte hadern oft mit ihrem Schicksal. Schließlich sind einige von ihnen Führungskräfte geworden, um anderen sagen zu können, was sie tun sollen. Dieses Verhalten entspricht allerdings so gar nicht den agilen Prinzipien.

Zu viel Zeit sollten sich Unternehmen allerdings nicht lassen. Die High Potentials von heute stehen auf flache Hierarchien – und auf ihre eigene Meinung. Von Argumenten lassen sie sich überzeugen. Aber dass jemand wegen „Ich bin hier der Chef!“ recht haben will … Sagen wir es so: Andere Arbeitgeber sind da irgendwie schon weiter, irgendwie agiler.

Survival-Tipps

  • Halte regelmäßige Meetings ab, um den Fortschritt zu besprechen und Bedenken der Teammitglieder auszuräumen.
  • Teile Deine Projekte in kleinere, überschaubare Aufgaben auf, um den Überblick zu behalten und Erfolge schnell zu erkennen.
  • Fördere ein vertrauensvolles Umfeld, in dem Teammitglieder offen über Herausforderungen und Konflikte sprechen können.
  • Stelle sicher, dass jeder im Team seine Rolle und Verantwortlichkeiten kennt, um Unsicherheiten zu minimieren.
  • Nutze ein agiles Framework und implementiere regelmäßige Feedback-Runden, um kontinuierliche Verbesserung und Anpassung zu fördern.
  • Anerkenne und feiere kleine Erfolge im Team, um das Vertrauen in den agilen Prozess zu stärken.

Mario Neumann

Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationalen Deutschen Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.