Strategie

Am besten ist es immer 5 vor 12

Von am 05.06.2025

Gerne frage ich Menschen nach ihren Ansichten, Strategien und Thesen, da mich ihre Arbeit und Standpunkte faszinieren. Für meine Kolumne NACHGEFRAGT habe ich mit dem Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Christian Rieck gesprochen. Er ist davon überzeugt, dass viele unserer Handlungen scheinbar irrational sind, aber in Wahrheit rational. Ich habe ihn gefragt, wer die Gegenspieler in unserem Kopf sind.

Mario: Ihr Buch beginnt mit einer schlechten Nachricht: Wir haben eine gespaltene Persönlichkeit. Eine Seite von uns ist organisiert, gesund, freundlich und ist im Projekt mit seinen Deliverables immer rechtzeitig. Die andere Seite trödelt herum, ernährt sich schlecht, verschwendet Zeit mit Streaming-Serien oder „Social“ Media und leidet unter hohem Blutdruck, weil sie sich ständig über die eigenen Unzulänglichkeiten aufregt …

Prof. Rieck: In unserem Kopf existieren viele kleine ICHs, die ihre eigenen Pläne verfolgen. Dein heutiges ICH tritt gegen dein zukünftiges ICH an; dein übergeordnetes und stets pünktliches ICH kämpft gegen die vielen kleinen ICHs, die die klugen Ideen des übergeordneten ICHs umsetzen sollen. Doch das tun sie nicht. Stattdessen drücken sie sich lieber und genießen eine Piña Colada in einer Hängematte, während Dein übergeordnetes ICH in Stress gerät. Diese kleinen ICHs, die wir in diesem Zusammenhang „Agenten“ nennen, sind listig.

Obwohl du sie anschreien kannst, damit sie endlich mit diesem dämlichen Piña-Colada-Trinken aufhören und mit der Arbeit beginnen, hören sie zwar auf, Piña Colada zu trinken, aber deshalb werden sie noch lange nicht arbeiten.

Mario: Das klingt ja fast so, als ob wir diesen Agenten nicht mit Vernunftargumenten beikommen können …

Prof. Rieck: Versuchen Sie doch mal, Ihrem Agenten, der gerade ein großes Stück Schokolade in Ihren Mund stopft, zu erklären, wie großartig Sie sich in einem Jahr fühlen würden, wenn Sie ab jetzt keine großen Stücke Schokolade mehr essen würden. Hier und jetzt ist das Essen von Schokolade viel angenehmer als die Vorbereitung auf den nächsten Lenkungsausschuss, der Vertragsentwurf des Subunternehmers oder das Abnahmeprotokoll für das nächste Leistungspaket. Den Bauch sieht man frühestens im nächsten Frühjahr; bis dahin ist noch viel Zeit, um abzunehmen, Sport zu treiben und Deadlines einzuhalten.

Mario: Ich habe eine Vorliebe für Schokolade, aber mein Bluthochdruck erinnert mich daran, dass ich mich gesund ernähren sollte. Außerdem sollte ich öfter laufen gehen. Warum schaffe ich es nicht, den Agenten mit der Schokolade zu überwinden?

Prof. Rieck: Wie bereits erwähnt, ist es nicht möglich, Ihren Agenten mit rationalen Argumenten zu überzeugen, da die Vernunft auf Deiner Seite steht. Je mehr Du versuchst, rational zu argumentieren, desto mehr gerätst Du ins Hintertreffen. Wenn wir akzeptieren, dass diese Agenten existieren, müssen wir auch akzeptieren, dass sie andere Interessen haben als unser gesamtes ICH. Daher solltest Du gar nicht erst versuchen, Dich mit rationalen Argumenten zu überzeugen – schließlich ist der Agent mit der Schokolade ja ein Teil von Dir. Der einzige erfolgreiche Weg, Deine Agenten dazu zu bringen, etwas Sinnvolles zu tun, ist sie zu überlisten.

Mario: Und wie soll das gehen?

Prof. Rieck: Mal angenommen, Du bestehst aus einer Belegschaft katastrophaler Angestellter, die Du irgendwie unter Kontrolle bekommen willst. Wenn es irgendwelche negativ besetzten Eigenschaften gibt, dann haben Deine Angestellten sie auch. Sie sind faul, egoistisch, verfressen und kurzsichtig, denken also nur bis zur Nasenspitze.

Wenn du das akzeptiert hast, kannst du den nächsten Schritt gehen und erkennen, dass jede Organisation aus einer Gruppe solcher Mitglieder besteht. Bleiben wir bei dem Bild, dass eine Direktorin ihre Angestellten dazu bringen will, gemeinsam etwas Sinnvolles zu tun. Es gibt zwei Extreme, wie sie das umsetzen kann: Im einen Extrem gibt sie präzise Anweisungen für jeden möglichen Fall; im anderen Extrem setzt sie lediglich das Ziel und hofft, dass die Angestellten selbst eine Methode entwickeln, um dorthin zu gelangen. Sie muss sich nicht für einen der beiden Wege entscheiden: Beide sind zum Scheitern verurteilt. Präzise Anweisungen für jeden möglichen Fall zu geben ist in einer komplexen Welt unmöglich. Neue Informationen tauchen ständig auf, und diese erreichen zuerst die Ausführenden. Die Chefin würde also ständig der Realität hinterherlaufen und faktisch doch alles selbst machen müssen.

Prof. Dr. Christian Rieck ist Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Finanzwesen an der Frankfurt University of Applied Sciences. 2019 startete er einen YouTube-Kanal mit Themen der Spieltheorie, dem zwischenzeitlich 360.000 Menschen folgen. In seinem Buch „Anleitung zur Selbstüberlistung“ erklärt Christian Rieck, dass viele unserer Handlungen zwar völlig irrational erscheinen, in Wahrheit aber rational sind – wenn wir die Gegenspieler in unserem Kopf verstehen. In seinem neuen Buch präsentiert er geniale Lifehacks aus der Spieltheorie. Sein Motto: Das eigene Leben zum Spiel machen, in dem man stets gewinnt.

Mario: Deshalb ist es wichtig, dass eine Organisation von ihren Mitarbeitern vor Ort lebt, die in der Lage sind, eigenständig Probleme zu lösen, Umwege zu gehen, Fehler zu beheben und alternative Methoden zu entwickeln, um ihre Ziele zu erreichen. Ist das nicht ein wenig naiv?

Prof. Rieck: Ja, denn wer ausschließlich auf die Eigeninitiative vor Ort vertraut, übersieht eine wichtige Tatsache: Die Angestellten wissen, dass sie mehr wissen als ihre Chefin. Wenn sie vor der Wahl stehen, viel zu arbeiten und den Bonus der Chefin zu erhöhen oder Kaffee zu trinken und das Leben zu genießen, entscheiden sie sich immer für Letzteres. Die Chefin hat nicht genug Informationen, um festzustellen, ob das Projekt wegen des Kaffeetrinkens oder aufgrund widriger Umstände von außen gescheitert ist. Wenn die Direktorin die Sache falsch angeht, wird sie immer auf traurig dreinschauende Mitarbeiter stoßen, die ihr hochgradig plausible Gründe nennen, wieso alles nicht funktioniert hat und warum sie mit dem Misserfolg nichts zu tun haben.

Mario: Wie bekommt die Direktorin ihre Angestellten dazu, das zu tun, womit sie sie beauftragt, obwohl sie nicht alles kontrollieren kann?

Prof. Rieck: Die Lösung für dieses Problem besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Angestellten ihre Aufgaben freiwillig und bestmöglich ausführen. Freiwillig bedeutet nicht unbedingt mit Freude. Dies liegt an der kleinen Asymmetrie in den Rollen der beiden Beteiligten. Denn die Direktorin kann die Spielregeln vorgeben, nach denen die Mitarbeiter agieren müssen. Wenn diese Regeln geschickt gestaltet sind, können die Mitarbeiter trotzdem lieber Kaffee trinken wollen, aber aufgrund der neuen Regeln zähneknirschend zu dem Schluss kommen, dass es besser ist, das zu tun, was die Direktorin von ihnen erwartet.

Mario: Ich muss also nur genügend Druck ausüben …?

Prof. Rieck: Naja, warum sollte ein Mitarbeiter beispielsweise eine ungeliebte Seminararbeit schreiben, wenn er stattdessen viel angenehmere Dinge tun kann? Erst wenn die Arbeit morgen fällig ist, wird der zu erwartende Nachteil einer schlechten Note so offensichtlich und spürbar, dass selbst der betreffende Mitarbeiter sich lieber für das lästige Schreiben entscheidet als für das neueste YouTube-Video. Wenn jedoch noch Zeit zwischen der Deadline und dem aktuellen Zeitpunkt liegt, passiert das, was wir bereits kennen: Der unmittelbare Nachteil überwiegt den abstrakten Vorteil, irgendwann in der Zukunft einen Universitätsabschluss zu haben. Deshalb würden nur nicht rationale Mitarbeiter die Entscheidung treffen, ohne Zeitdruck anzufangen.

Mario: Das Ziel agentengerechten Zeitmanagements besteht darin, so schnell wie möglich in den Panikmodus zu kommen?

Prof. Rieck: Ja, denn erst wenn die Zeit knapp wird, können wir produktiv arbeiten. Erst dann ist es akzeptabel, die Arbeit so effizient zu erledigen, dass sie überhaupt abgeschlossen wird. Andernfalls könnten wir unseren Mitarbeiter zwar endlich zur Arbeit bewegen, nur um dann festzustellen, dass er sich so sehr in Details verliert, dass das große Projekt nie fertig wird. Es ist kein Zufall, dass im Sport und bei Spielen immer wieder das Element des Zeitdrucks eingesetzt wird. Im Fußball sind die letzten Minuten vor dem Abpfiff besonders spannend, und selbst in einem Strategiespiel wie Schach zählt eine Uhr die Zeit herunter. All diese Elemente sind auf die Agenten optimiert. Unter Zeitdruck wissen die Agenten genau, dass sie nicht zögern dürfen, um in ihrem begrenzten Zeitrahmen noch Erfolg zu haben.

Mario: Wie schafft man Zeitdruck? Einfach eine verkürzte Deadline setzen? Ich trage beispielsweise den 1. Februar in den Kalender ein, obwohl die Abgabe erst für den 28. Februar geplant ist.

Prof. Rieck: Das wäre ein Fehler, den selbst Anfänger nicht machen würden. Agenten sind zwar kurzfristig orientiert, aber keineswegs dumm. Sie erkennen die Täuschung sofort und beschäftigen sich lieber mit etwas anderem. Agenten herrschen über winzige Zeitabschnitte, nicht über Monate. Ein Monat ist für einen Agenten eine so lange Zeitspanne, dass er an jedem Tag vor dem 27. Februar noch unendlich viel Zeit vor sich zu haben glaubt. Er weiß, dass der 1. Februar nur eine Finte ist und dahinter noch die Unendlichkeit liegt. Deshalb reagiert er nicht darauf. Fünf vor zwölf würde er jedoch reagieren.

Mario: Ist es nicht etwas gewagt, wenn wir unseren Agenten mit der Arbeit erst dann beginnen lassen, wenn ein anderer Termin unmittelbar vorsteht!? Also: Unser Zug fährt in 30 Minuten ab und ich sitze noch in der DB Lounge und beginne mit dem Meeting-Protokoll.

Prof. Rieck: Der Trick mag vielleicht unkonventionell erscheinen, ist jedoch ein auf die Agenten zugeschnittenes Zeitmanagement. Denn dadurch entsteht eine echte Deadline, gegen die der Mitarbeiter arbeiten muss. Der Fokus liegt auf einer realen, nicht vorgetäuschten Deadline. Das ist das, worauf der Meister der Sekunden und Minuten anspringt. Wir sagen ihm nicht: „Erledige es irgendwann bis heute Abend“, sondern: „Du hast noch 30 Minuten, dann müssen wir zum Bahnsteig!“ und überlassen ihn seinem Schicksal, während die Uhr unerbittlich tickt.

Natürlich ist so eine Minutendeadline stressig. Für kurze Zeit ist es ein produktiver Stress, aber es bleibt Stress. Deshalb bestehen Computerspiele nicht nur aus diesem Element, sondern wechseln solche intensiven Phasen mit anderen Phasen ab. Denn der Spieler gibt für eine kurze Zeit mehr, als er dauerhaft leisten könnte. Im Sport haben wir einen Namen dafür: Sprint.

Mario: Den Begriff Sprint gibt es nicht nur im Sport, sondern auch im Projektmanagement, besonders in der Softwareentwicklung. Dort gehört er zum Standardrepertoire der agilen Projekte und bezeichnet die kurzen, intensiven Phasen, in denen etwas abgearbeitet wird.

Prof. Rieck: Richtig. Mit einem Sprint kann man Dinge abarbeiten, manchmal auch besonders kreativ sein – aber gewiss nicht strategisch und langfristig denken. Auch beim Sprint im Sport weiß man vorher genau, wo man hinwill. Sich erst auszudenken, wohin man eigentlich will, geht nur in Phasen der Ruhe. So ist es auch hier. Aber darüber müssen sich die Mitarbeiter keine Gedanken machen, denn die Richtung gibt die Direktorin vor. Ehrlicherweise muss man sagen, dass die Mitarbeiter sich über die Richtung auch gar keine Gedanken machen können – sie sprinten einfach. Die Direktorin muss natürlich alles richtig eingefädelt haben. Und wenn die Mitarbeiter erst mal loslegen, dann tun sie das auch schnell und lange.

Mario: Was macht man, wenn die Agenten so im Flow sind, dass sie nach der Sprint-Deadline nicht aufhören wollen?

Prof. Rieck: Manche Aufgaben sollte man abschließen, andere nicht. Das hängt von der Art der Arbeit ab. Wenn Du endlich damit begonnen hast, den Abschlussbericht zu schreiben, den Du schon seit Monaten vor Dir herschiebst, dann schreibe ihn in Gottes Namen weiter, wenn Du gerade im Flow bist und keine anderen Arbeiten erledigen musst. Wenn allerdings wichtige Aufgaben anstehen, dann darfst Du die Deadline nicht verfluchen. Du solltest Dich vielmehr daran erinnern, dass die Deadline Deine Geheimwaffe gegen die Rationalität Deiner Agenten war und Du ohne sie gar nicht erst mit der Arbeit begonnen hättest.

Mario: Lieber Prof. Rieck, herzlichen Dank, dass ich bei Ihnen nachfragen durfte.

Anleitung zur Selbstüberlistung

„Wir wissen genau, was wir tun sollten, aber tun etwas völlig anderes. Wir schieben die wichtigen Dinge auf und erledigen das Unwichtige. Am Ende des Tages fragen wir uns, wo der Tag geblieben ist, am Ende des Jahres, wo das Jahr – und am Ende des Lebens? Es nützt nichts, sich vorzunehmen, etwas zu ändern, solange wir nicht die Gesetzmäßigkeit verstehen, die gegen uns arbeitet. Mit Hilfe der Spieltheorie lassen sich wie in einem Spiel Reaktionen und Spielzüge unserer Gegenspieler vorhersehen. Unter allen möglichen Gegenspielern gibt es einen, der besonders heimtückisch ist: wir selbst. Der Wirtschaftsprofessor und Experte für Spieltheorie Christian Rieck, dem auf YouTube rund 360.000 Menschen folgen, erklärt in diesem faszinierenden Buch, dass viele unserer Handlungen zwar völlig irrational erscheinen, in Wahrheit aber rational sind – wenn wir die Gegenspieler in unserem Kopf verstehen.