Agilität

Aktuelle Business Agility Trends

Von am 07.10.2024

Ich stelle Menschen gerne Fragen, weil mich ihre Arbeit, ihre Strategien, ihre Standpunkte oder ihre Thesen interessieren. In meinem Online-Magazin möchte ich die Antworten meiner Interviewpartner gerne mit Euch teilen. Heute habe ich meine FÜNF FRAGEN an Timm Urschinger gestellt.

Mario: Wirtschaftlicher Fortschritt, gesellschaftlicher Wohlstand und menschliches Wohlergehen. Der Wandel schafft neue Möglichkeiten, gleichzeitig ist die Zukunft unvorhersehbar. Wie schaffen wir es unter diesen schwierigen Umständen, nicht nur die gewohnte Leistung zu halten, sondern auch noch innovativ und kreativ zu sein.

Timm: Es herrscht Einigkeit darüber, dass das Geschäftsleben, wie wir es kennen, schon heute den Anforderungen nicht mehr gewachsen ist, und in Zukunft sogar destruktiv sein wird. Auch wenn viele Modelle versprechen, Unternehmen agiler zu machen, gibt es keine Wunderwaffe! Corona und das aktuelle Weltgeschehen zeigen uns gerade sehr deutlich, wie sich Unsicherheit und Komplexität anfühlen – und wie schnell Unternehmen auf Veränderungen reagieren müssen, wenn sie zumindest überleben wollen. Um als Organisationen agil zu werden oder zu transformieren, gibt es viele Wege. Aus pyramidenförmigen Strukturen werden holokratische Kreise. Netzwerk-Organisationen stehen hoch im Kurs. Projektmanager heißen jetzt Scrum-Master. Und Squad-Teams, Tribes, Chapters und Guilds sind in aller Munde. Aber hilft das Unternehmen wirklich? Struktur unterstützt die Entwicklung neuer Verhaltensweisen sowie das Verlernen alter Muster und das ist es, was wir letztendlich in einer Transformation wollen. Allerdings sind Menschen auch sehr anpassungsfähig. Deshalb müssen wir drei Dimensionen beachten: Erstens die kontinuierliche Weiterbildung in agilen Methoden und Tools. Zweitens die Investitionen in Denkweisen und Fähigkeiten der Mitarbeiter und Führungskräfte. Und drittens die Entwicklung der richtigen Organisationsstruktur. Dann sind Unternehmen in der Lage, Agilität zu leben, weil sie fähig sind, schnell auf Unbekanntes zu reagieren, iterativ zu lernen, zu erkennen und zu reagieren. Und damit die Manövrierfähigkeit in einer komplexen und teilweise chaotischen Welt besitzen.

Mario: Und wie geht man am besten konkret an diese Situation heran?

Timm: Ganz einfach, indem wir lernen, uns wieder auf unsere neugierige Natur zu verlassen. Als Vater von zwei Kindern im Alter von 2 und 3 Jahren weiß ich sehr genau, wie groß der Lerndrang sein kann. Erinnern wir uns an große Entdeckungen, dann hat sich dabei eines immer wieder gezeigt: Unabhängig ob diese Entdeckungen oder Erfindungen die ganze Welt oder nur uns selbst betreffen – Menschen, denen eine Lösung oder die „Heilung“ eines Problems wirklich am Herzen liegt, ziehen keine voreiligen Schlüsse. Sie beginnen mit einer überlebensgroßen Neugier. Um diese Neugierde zu stillen, brauchen wir vor allem eines: Geduld. Wir müssen (uns) viele Fragen stellen, Zweiflern entgegentreten, mit Widerständen kämpfen, bis sich enthüllt, was wirklich zählt. Betrachten wir die Entwicklungen der letzten beiden Jahre, waren vor allem die Unternehmen in der Krise erfolgreich, die es verstanden haben, mit Weit- und Zuversicht zu agieren. Unternehmen, die nicht vor Angst erstarrt sind und sich in der selbstfokussierten Umsetzung und Definition neuer Regeln verfangen haben. Arbeitgeber, die über den Tellerrand des Ego-Systems ihres Unternehmens hinausgedacht haben. Organisationen, die sich die Frage stellten, wie in dieser Situation mit der Menschheit umgegangen werden soll. Wer auf seine Belegschaft hörte und Maßnahmen umgesetzt hat, die Solidarität und gegenseitige Unterstützung ermöglichen, war gut beraten. Auch jetzt noch werden neue Partnerschaften aufgebaut und die Zukunft ganzheitlich betrachtet. Ein enormes Potenzial für positive Veränderungen. Es ist an der Zeit, neue Arbeitsweisen und Organisationsstrukturen zu säen, zu pflegen und wachsen zu lassen?

Foto: Timm Urschinger

Mario: Du sprichst viel über Teal als zukünftiges Organisationsmodell, ihr arbeitet und lebt das auch selbst im Unternehmen. Was steckt dahinter?

Timm: Das Problem bei der Agilität ist, die meisten Unternehmen streben zwar nach Innovation, brechen aber keine Organisationsmuster. Frédéric Laloux untersuchte in diesem Zusammenhang, warum und wie selbstorganisierte Organisationen erfolgreich arbeiten. Zusammenfassend ignorierten sie das, was sie im BWL-Studium bzgl. Hierarchien, Bürokratie und Machtstrukturen gelernt hatten, und suchten stattdessen nach etwas Mächtigerem, etwas mit Autonomie, Seele und Sinn. Die Ergebnisse veröffentlichte Laloux 2014 im Buch „Reinventing Organizations“. Und obwohl sich die Unternehmen in Branche, Größe und Standort unterschieden, hatten sie am Ende die gleichen drei grundlegenden Durchbrüche erzielt: Erstens Selbstführung, d.h. keinerlei Hierarchieebenen und eine verteilte Autorität. Zweitens Ganzheitlichkeit, d.h. vor allem bezogen auf die Mitarbeiter wird eine enorme Energie und Kreativität freigesetzt, wenn jeder er selbst sein kann. Und drittens der evolutionäre Sinn, d.h. das Unternehmen wird als lebendiger Organismus betrachtet, dem die Mitarbeiter zuhören und folgen.

Mario: Klingt das nicht ein wenig idealistisch und anarchistisch, vielleicht sogar esoterisch?

Timm: Mag sein, aber das ist es nicht! Es ist die Antwort auf Unternehmensprobleme wie fehlende Mitarbeiterbegeisterung, schlechte und langsame Entscheidungsfindung und mangelnde Innovation. Das private Umfeld zeigt uns, dass wir die Wahl haben: entweder aus unserem Ego oder aus dem Bewusstsein des Ökosystems heraus zu handeln. Zum Glück sind Agilität, Teal und neue Arbeitsweisen für viele keine Fremdworte mehr, sondern schlichtweg gesunder Menschenverstand. Tatsächlich wissen wir seit langem, dass neue Organisationsformen mit einer ganzheitlichen Sichtweise zu Wachstum auf allen Ebenen führen können. Die entscheidende Frage ist allerdings, worauf dieses Wachstum fußt: Zahlen, energisch umgesetzte strategische Pläne oder Purpose? Der Sinn wird sich heute und morgen als wesentlich erweisen. Denn es ist der Zweck, der Menschen überzeugt, der Kunden kaufen lässt. Mitarbeiter, die wissen, WARUM sie etwas tun, sind die stärksten Markenbotschafter – für Produkte ebenso wie für das ganze Unternehmen. Glauben Mitarbeiter daran, dass ihre Arbeit wichtig ist und ihr Tun einen Unterschied in der Welt machen wird, schafft der Purpose eine tiefe Inspiration, weckt Stolz, fördert die Kreativität und verankert die Mitarbeiter. Aktiv und glücklich setzen sie sich für ein gemeinsames Ziel ein. Und wer wünscht sich nicht die Synergie motivierter Mitarbeiter?

Mario: Alle reden über Selbstorganisation und autonome Teams und welche Kriterien man als Einzelner, Team oder Unternehmen erfüllen muss, um wirklich agil zu werden. Aber womit fängt man an, oder gar, womit muss man anfangen?

Timm: Darauf gibt es nur eine einzige Antwort: Die Basis jeder agilen Organisation sind Vertrauen und Transparenz. Unternehmen brauchen sich nicht die Mühe machen, mit den technischen Details von Rollen, Prozessen oder Regeln und Prinzipien für ein selbstorganisiertes Umfeld zu beginnen, wenn Chefs und Führungskräfte, wenn Manager und Konzernlenker nicht selbst bereit dazu sind, radikal transparent zu sein und ihren Mitarbeitern sowie auch sich gegenseitig zu vertrauen. Dafür braucht es vor allem eines: einen sicheren Raum. Denn mit der Selbstorganisation kommt auch die Verantwortung. Jeder ist (plötzlich) für seine Aufgaben, Aktionen und Agenda selbst verantwortlich. Unabhängig davon, ob diese gut oder schlecht laufen. Jeder muss eigene Prioritäten setzen und Entscheidungen treffen. Vor allem Mitarbeiter, die zuvor in hierarchischen Strukturen gearbeitet haben, werden dies nicht als befreiend empfinden – ganz im Gegenteil! Unternehmen können (und müssen) helfen, indem sie einen sicheren Raum schaffen, an dem niemand eine professionelle Maske tragen muss, sondern jeder er selbst sein kann. In unseren herausfordernden Zeiten entwickelt sich auch die Rolle jedes Einzelnen immer weiter. Wir sind nicht „nur“ Führungskraft oder Arbeitstier, sondern Menschen mit Gefühlen und Bedürfnissen. Jeder von uns ist Teil des Ganzen. Diese Erkenntnis könnte für die Bewältigung vieler Herausforderungen in den kommenden Jahren von entscheidender Bedeutung sein. Wir dürfen angesichts der Probleme nicht erstarren, sondern müssen sie direkt angehen. Gemeinsam, füreinander und miteinander, mit Blick auf das große Ganze und vor allem mit dem Herzen am rechten Fleck.

Mario: Danke für das Interview.

Zur Person

Timm Urschinger ist Mitgründer und CEO von LIVEsciences. Nach dem Studium sowie einigen Jahren bei einem bekannten Pharma-Konzern in der Schweiz und im Consulting beschloss er ein eigenes Unternehmen zu gründen. Seine Erfahrung im Management globaler Programme und Transformation hat in ihm die Leidenschaft geweckt, pragmatische und innovative Lösungen zu entwickeln – für das eigene Unternehmen und für Kunden. Neue Organisationsmodelle wie Teal spielen dabei eine ebenso große Rolle wie die Selbstführung und dass Menschen endlich wieder Sinn und Spaß im Berufsleben erfahren. www.livesciences.com

Mario Neumann

Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.