Ohne Rolle keine Authentizität
Menschen erwarten voneinander, dass sie echt und authentisch sind. Authentisch sein kann man nur in einer Rolle. Beim Schlafen, beim Duschen, beim Spazierengehen, beim Meditieren können wir nicht authentisch sein. Da wir bei diesen Tätigkeiten keine soziale Rolle übernehmen, macht Authentizität keinen Sinn. Erst wenn wir eine Rolle annehmen und ausfüllen, haben wir die Chance, es so zu tun, dass es mit unserem Inneren übereinstimmt, das heißt, dass es von unserer Disposition und Emotion geprägt ist.
Ohne Rolle keine Authentizität
Authentizität (griech.: authentikós) bedeutet „Echtheit, Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit“. Wie aber wird Authentizität im Zusammenhang mit Rollenverhalten definiert? Steht Authentizität im Widerspruch zur Rollenkompetenz?
Authentizität hat nichts mit dem Ausleben momentaner Emotionen zu tun, auch wenn diese echt und nachvollziehbar sind. Eine Führungskraft, die sich eigensinnig und launenhaft verhält, hat eher Defizite in der Rollenkompetenz. Authentizität hat etwas damit zu tun, dass in jeder Rolle immer die individuelle, einmalige Person der prägende Faktor ist. Ob jemand extrovertiert oder introvertiert ist, wird sich in seinem Verhalten zeigen. Ob jemand ein sachorientierter oder ein gefühlsorientierter Mensch ist, ob er eher wortkarg oder leutselig auftritt – was nützt es ihm und seinen Mitarbeitern, wenn er durch künstliches Rollenverhalten etwas vortäuscht? Äußere Zwänge wie Gruppenzwang, Höflichkeit, Floskeln, Rituale, Etikette und Wohlverhalten verfremden die Authentizität. Gelegentlich wird in Führungstrainings eine gewisse Extrovertiertheit antrainiert: „Man muss doch zeigen, dass man weiß, wo es lang geht.“ Aber das ist nicht authentisch, das kann sogar eher aufgesetzt wirken.
Authentisch sein heißt: Wir erfüllen unsere Rolle, gestalten sie unverstellt und ganz natürlich auf der Basis unserer Persönlichkeit
Wir werden als authentisch bezeichnet, wenn unser Handeln nicht durch äußere Einflüsse bestimmt wird, sondern in uns selbst begründet liegt. Wir vermitteln dann ein Bild, das als natürlich, unverbogen, ungekünstelt, unverkennbar wahrgenommen wird – wir wirken dann „echt“. Dabei muss es sich nicht um unsere ganze Palette von Eigenschaften handeln. Vier Kriterien zeigen die Authentizität eines Menschen:


Foto: Matjaz Slanic auf istockphoto
Bewusstsein
Ein authentischer Mensch ist sich seiner eigenen Persönlichkeit, seiner Prägung und seiner Glaubenssätze bewusst. Er weiß um seine Stärken und Schwächen. Er kennt seine Gefühle und Gedankengänge. Das ist unabhängig von Status und Kompetenz.
Reflektiertheit
Ein authentischer Mensch reflektiert die Motive für seine Verhaltensweisen. Erst durch die Selbstreflektion ist er in der Lage, sein Handeln bewusst zu erleben und zu überprüfen. Er kann widersprüchliche Wahrheiten zulassen, diese wertfrei identifizieren und aus unterschiedlicher Perspektive schauen. Er kann mit seinem Lebenskonzept flexibel umgehen, er ist jederzeit bereit, es durch ein stimmigeres zu ersetzen.
Aufrichtigkeit
Ein authentischer Mensch ist wahrhaftig, kann seiner Mitwelt ins Auge blicken und die Rückmeldungen – auch unangenehme – akzeptieren. Er steht zu sich und wird seine Defizite und negativen Seiten nicht verleugnen. Er orientiert sich zwar an den Erwartungen seiner Mitwelt, aber er sorgt für sich und bewahrt dabei seinen individuellen Stil.
Stimmigkeit
Ein authentischer Mensch verfügt über ein Wertesystem, nach dem er konsequent handelt. Das gilt für die gesetzten Prioritäten und auch für den Fall, dass er sich dadurch Nachteile einhandelt. Auf die anderen wirkt sein Verhalten, das sich in rationalen und emotionalen sowie verbalen und non-verbalen Signalen äußert, jederzeit stimmig.
„Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu“ (Ödön von Horváth)
Rollenkompetenz erwerben
Jeder Mensch kann immer und überall mit Rollen spielen und experimentieren. Er kann in verschiedenen privaten und beruflichen Lebensbereichen und Situationen in unterschiedlichen Rollen auftreten. Im Berufsleben sind Rollen sehr stark mit Funktionen verbunden.
- Die Rolle ist die emotionale Verhaltensdimension einer Funktion, die jemand ausübt.
- Die Funktion ist die produktive, sachbezogene Dimension einer Rolle, die jemand übernimmt.
Jeder sollte in der Lage sein, mit seinen persönlichen Ausdrucks- und Verhaltensweisen bei den anderen einen authentischen Eindruck zu hinterlassen – er sollte original er selbst sein. Aber je mehr Verhaltensweisen er in seinem Repertoire hat, desto besser kann er sich in soziale Situationen einpassen und desto mehr Anerkennung und Erfüllung wird er erlangen.
Rollenkompetenz ist die Kompetenz, in dem spezifischen Umfeld, in dem man lebt, wirkt oder arbeitet, in einer adäquaten Rolle aufzutreten, so dass man seine Funktion sozial und effektiv ausüben kann. Wirkt man in unterschiedlichen Feldern, so muss man sich auch unterschiedlich verhalten und emotional ausdrücken.
Die Rollenkompetenz macht es möglich, sich unter den Mitmenschen und Kollegen zurechtzufinden, sie emotional zu erreichen und mit ihnen zu kooperieren. Im Beruf sind diese Fähigkeiten wichtige Bestandteile der Professionalität, die darin besteht, dass man berufliches Wissen und Können einsetzen und nutzbar machen kann. Führungskräfte sind zum Beispiel gleichzeitig
- Vorgesetzte für ihre Mitarbeiter
- Berater für Ratsuchende
- Ansprechpartner für Kunden
- Kollegen von anderen Führungskräften.
Die rollenkompetente Person ist fähig, zwischen ihren unterschiedlichen Rollen und deren Anforderungen zu differenzieren, sich auf das jeweilige Umfeld und die aktuelle Situation einzustellen und dementsprechend in der richtigen Rolle aufzutreten. Dabei bleibt die Person immer sie selbst, sie bleibt echt und authentisch.
Als Vorgesetzter schlüpft man in eine gewisse Chef-Rolle gegenüber einem Mitarbeiter, während der freundschaftliche Umgang außerhalb der Firma ganz anders aussehen kann. Das heißt nicht, dass man anderen etwas „vorspielt“, sondern dass man sich in einer bestimmten Situation seiner Rolle bewusst ist und sich entsprechend funktional verhält. Ein Ausbilder zum Beispiel weiß um seine Rolle als Vorbild und verhält sich gegenüber den Auszubildenden korrekt, vorbildlich, gerecht und gewissenhaft („Vorbildfunktion“).
Ein Mensch nimmt natürlich auch im Privatleben unterschiedliche soziale Rollen an, die letztendlich alle zusammen seine Persönlichkeit ausmachen. Jeder, der sich in verschiedenen sozialen Systemen aufhält und sich dort einbringt, nimmt unterschiedliche Rollen ein. Das geht von der Mutter- oder Vaterrolle über die Rolle des Elternvertreters in der Schule, des Mannschaftsmitgliedes im Sport, des Seminarteilnehmers in Weiterbildungen bis hin zur Rolle des Party-Gastes. Jede Rolle erfordert ein bestimmtes Spektrum an Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die er sich erwerben muss – ähnlich wie ein Schauspieler, der sich für sein Rollenrepertoire die entsprechenden Texte und Gesten erarbeitet.
Rollen brauchen soziale Kompetenz, soziale Kompetenz übernimmt verschiedene Rollen
Ein Rollenkonflikt entsteht durch unterschiedliche Rollen, die von einer Person gleichzeitig erwartet werden. Gerade eben soll jemand den strengen Vorgesetzten geben, kurz darauf wieder den gut gelaunten Motivator. Wie kann man da so schnell umschalten? Wer sich über die jeweilige Rolle klar ist und sie einnimmt, kann seine individuelle Persönlichkeit und seine Eigenart authentisch mit einbringen und hier wie dort gewünschte Wirkungen erzielen.


Mario Neumann
Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.