Well Team Times Nr. 251

Ganzheitlich herangehen (1)

Von am 11.10.2021

Die Menschen auf allen Ebenen wahrnehmen

Was bedeutet „ganzheitlich“? Ganzheitlichkeit ist ein Begriff, über den man diskutieren, aber auch rätseln kann. Woran kann man Ganzheitlichkeit erkennen? Welche Ebenen sind hier angesprochen? Wann kann man sagen, dass eine Methode „ganzheitlich“ ist? Wie viele und welche Teile bilden hier eine Ganzheit? Wer das Wort ganzheitlich benutzt, sollte erläutern, wie diese Teile zusammengehören und wie sie ein Ganzes darstellen.

„Ganzheitlichkeit“ ist ein Leitbild

Wissenschaftler können mit dem Begriff der „Ganzheitlichkeit“ oft wenig anfangen. Wann hat man denn ein Phänomen mit all seinen Einflussfaktoren wirklich „ganz“ erfasst? Wann hat man wirklich „alle“ relevanten Aspekte und Ebenen mit einbezogen? Wenn Wissenschaftler etwas „ganzheitlich“ betrachten, dann wollen sie damit ausdrücken, dass sie nicht nur aus der Perspektive einer Wissenschaft schauen, etwas der Schulmedizin, sondern versuchen, ein Problem in seiner „Ganzheit“ zu sehen, also alle relevanten Aspekte mit einzubeziehen.

Wer heute in medizinischen oder sozial-kommunikativen Berufen up-to-date sein will, der erklärt sich als „ganzheitlich“. Der Begriff wird eindeutig positiv verstanden. Damit ist das Eingehen auf physische, psychische, kognitive, emotionale, soziale und spirituelle Aspekte des Menschen gemeint. Viele verbinden damit Erfolg, Wachstum und Gesundheit, bis hin zu Heilungsversprechen und Heilsversprechen. Ist Ganzheitlichkeit ein Modewort oder steckt Tieferes dahinter? Jeder hat eine andere Vorstellung davon: Was heißt „ganz“, wenn man es auf den Menschen bezieht? Was ist „Ganzheit“. Was ist dann „ganzheitlich“? Und was bedeutet das Etikett der „Ganzheitlichkeit“?
(Vgl. Niels M. Hoffmann, Sozial-, Religions-u. Erlebnispädagoge)

Ganzheitliches Denken

Modelle, auch unsere Denkmodelle, bleiben immer nur vereinfachte Abbilder der Wirklichkeit und werden nie wirklich alle Wirkfaktoren mit einbeziehen können. Aber wir können unsere Auffassungen und Wahrnehmungen immer weiter verbessern, indem wir sie durch weitere Betrachtungsebenen vervollständigen. Sicherheit, dass wir wirklich das „Ganze“ erfassen und berücksichtigen, können wir allerdings nie haben. So bleibt die Ganzheitlichkeit letztlich eine Utopie. Das Streben nach Ganzheitlichkeit kann uns höchstens dazu bringen, mehr Ebenen zu erfassen und zu beachten. Schließlich müssen wir auch die Beziehungen zwischen den Ebenen berücksichtigen. Dies ermöglicht einen besseren, gerechteren Blick auf die Verfassung des Menschen. Wir können ihn besser verstehen und besser erreichen. Fühlen – denken – verhalten, das geht nur zusammen. Wir müssen verstehen, wie sich das Einwirken auf einer bestimmten Ebene auf einer anderen Ebene auswirkt. Wie wirkt es sich auf den Geist aus, wenn der Körper angesprochen wird? Wie wirkt es sich auf das Gefühl aus, wenn der Geist angesprochen wird? Wie kann eine Einsicht das Fühlen und Handeln verändern?

Foto: Matjaz Slanic auf istockphoto

Was ist „ganzheitliches Denken“? Was wird da von den Menschen verlangt? Über diese Frage reflektiert der Management-Philosoph Fredmund Malik auf folgende Weise:
„Der Mensch denkt, so wie er denkt; anders kann er nicht denken. Man muss schon froh sein, wenn er gelegentlich richtig denkt – im Sinne von logisch. Aber ganzheitlich? Diese Forderung ist unerfüllbar. Erfüllbar hingegen ist eine andere Forderung: nämlich an die Ganzheit zu denken. Das ist zugegebenermaßen nicht immer leicht, aber es ist möglich. Der Mitarbeiter kann es lernen; und als Führungskraft gehört es zu den ersten Aufgaben, den Mitarbeitern die Ganzheit vor Augen zu führen, es ihnen leichtzumachen, die Ganzheit zu erkennen.“ (Malik 2000, 93)

Ganzheitliches Denken

heißt auch, das Leben in seiner Ganzheit anzunehmen. Ein soziales oder emotionales Problem ganzheitlich zu betrachten meint eine umfassende und weitsichtige Berücksichtigung möglichst vieler Ebenen und Aspekte.

Da ist zum Beispiel die Frage der Innerlichkeit und der Äußerlichkeit. Das Ganze existiert im Inneren des Menschen wie im Äußeren, und beides ist Teil von ihm. Beides muss ausgewogen sein. Wir dürfen uns nicht für das eine auf Kosten des anderen entscheiden. Tun wir es trotzdem, dann fallen wir einem Extrem zum Opfer – und werden die menschliche Existenz nicht erfassen können. Geben wir zu viel Aufmerksamkeit nach außen, verausgaben wir uns; gehen wir mit unserer Aufmerksamkeit zu viel nach innen, verlieren wir den Bezug zur Realität und fangen an zu spinnen.
Was wir brauchen, ist Ausgewogenheit! Denn das Äußere und das Innere stehen nicht gegeneinander, sondern sind Regungen ein und derselben Lebensenergie. Diese Energie fließt von innen nach außen und von außen nach innen, beides ist unentbehrlich. Das Äußere und das Innere haben denselben Ursprung, sind ein und dasselbe Phänomen. Es gibt kein Innen ohne das Außen – und kein Außen ohne das Innen. Wenn die Menschen in diesem Sinne ganzheitlich und ausgewogen sind, dann ist es möglich, dass sie auch eine ausgewogene Gesellschaft bilden.

Ganzheitlichkeit bei den Pädagogen

Ganzheitlichkeit bedeutet in der Pädagogik die Einbeziehung handlungsorientierter Konzepte. Ausgehend von der Reformpädagogik
(1900 – 1932) betont das Konzept des „ganzheitlichen Lernens“ neben den traditionell im Vordergrund stehenden kognitiv-intellektuellen Aspekten auch körperliche sowie emotionale Aspekte: Ganzheitliches Lernen ist Lernen mit allen Sinnen, Lernen mit Herz, Hand und Verstand.

Ganzheitlichkeit beim Lernen kann sich auszeichnen etwa durch einen Wechsel von Anstrengung und Entspannung oder einem Wechsel von sprachlicher und nicht-sprachlicher Interaktion. Es gilt nicht nur das Lernen von Fakten und Regeln. Gefördert werden sollen Selbstständigkeit und Selbstbestimmung, das heißt Aktivität, Spontaneität und Kreativität, Sensibilität und Fantasie des Einzelnen, insbesondere auch in der Gruppe. Die Klassengemeinschaft, Arbeitsgemeinschaften, Projektarbeit, Schulidentität, Werken, Musizieren, Tanzen, Feste und Feiern, Sport und Theaterkurse werden an den Schulen kultiviert, sobald sie sich an der ganzheitlichen Pädagogik orientieren. Bildungsziel ist die schöpferische Persönlichkeit, die sich der Gemeinschaft anschließt und verpflichtet fühlt. Niemals darf es nur um intellektuelle Bildung oder gar nur um Wissensanhäufung gehen.

Die Erlebnispädagogik widmet sich der Leitlinie „Ganzheitlichkeit“ sehr intensiv, indem sie die Menschen ins Tun und Handeln bringt. Sie ist eine handlungs-  und erfahrungsorientierte Pädagogik und schickt die Lernenden in Situationen mit Ernstcharakter. Learning bei doing.

Im Zentrum erlebnispädagogischer Ansätze steht der Gedanke, einen ganzheitlichen, alle Sinne ansprechenden und vom aktiven Handeln bestimmten Lernprozess zu arrangieren. Bei diesem Konzept wird man einerseits auf die Entfaltung des Individuums schauen, andererseits das gemeinsame Leben und Lernen in den Vordergrund stellen. So dient die Erlebnispädagogik der Individuation wie der Sozialisation.

Ganzheitlichkeit bei den Medizinern

Dem naturwissenschaftlich verstandenen, engen Begriff von Gesundheit nach dem bio-medizinischen Modell steht ein ganzheitlicher Begriff von Gesundheit gegenüber. Wenn sich Gesundheit auf den einzelnen Menschen bezieht, kann sie als Zustand des körperlichen wie geistigen Wohlbefindens oder der physischen und psychischen Funktions-und Leistungsfähigkeit begriffen werden. Gesundheit wird von der Weltgesundheitsorganisation definiert als „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“.

Ganzheitsmedizin bezeichnet kein Fachgebiet der Medizin, sondern ist ein Signal für die Integration von universitärer, naturwissenschaftlich ausgerichteter Medizin, Komplementärmedizin und Erfahrungsheilkunde unter besonderer Berücksichtigung psychischer und geistiger Aspekte, wie Stress oder Unwissenheit. Der Ausdruck soll aber auch ein Signal für die Behandlung von kranken Menschen und nicht nur von Krankheiten sein.
Im Gegensatz zur symptomorientierten naturwissenschaftlichen Medizin versucht die Ganzheitsmedizin, die Ebenen des Geistes und der Seele bei der Diagnose und Therapie von Krankheiten mit einzubeziehen.

Im November folgt Teil 2:
Ganzheitlichkeit bei Psychotherapeuten und Teamdynamikern

Mario Neumann

Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.