Strategie

Erst Euphorie, dann Pleitegeier

Von am 03.02.2023

Wir alle kennen die spektakulären Beispiele. Der Bau der Elbphilharmonie etwa auf dem ehemaligen Kaispeicher war ein typisches Projektfiasko. Zu Beginn sollte das neue Wahrzeichen der Stadt Hamburg 77 Millionen Euro kosten, am Ende waren es vermutlich über 800 Millionen Euro.

Dieser Fall ist keine Ausnahme. Gerade die besonders innovativen und ambitionierten Projekte erleiden häufig Schiffbruch. Je ehrgeiziger das Projekt, desto blauäugiger scheinen die Beteiligten an die Sache heranzugehen. Anfängliche Euphorie – nicht zu verwechseln mit gesunder Motivation – verleitet dazu, dass alle kollektiv bei Rot über die Ampel fahren: Da werden unrealistische Ziele angepeilt, unhaltbare Termine verfolgt und sämtliche Risiken ignoriert. Gerade das Top-Management neigt dazu, sich von den Verheißungen einer neuen Idee blenden zu lassen.

Foto: Alvarez auf istockphoto

Achten Sie auf den Pleitegeier!

So war die Geschäftsführung eines kleinen Automobilzulieferers aus Oberbayern von ihrer neuesten Idee geradezu elektrisiert: Es sollte ein bahnbrechendes Produkt werden, auf der Basis einer neuen Technologie, 20 Prozent günstiger als das Vorgängermodell. Ein Produkt, das den Markt revolutionieren würde!

Der Projektleiter sah das Vorhaben deutlich skeptischer. Nach einer ersten Prüfung war ihm klar, dass weder Kosten noch Termine realistisch angesetzt waren. Nur hören wollte das niemand. Selbst im Projektteam fielen die Aufwandschätzungen viel zu optimistisch aus; die Mitarbeiter waren von der allgemeinen Euphorie angesteckt und unterschätzten Risiken und Probleme in der Projektdurchführung.

Zwei Jahre später hatte sich das Bild gewandelt. Kaum noch jemand glaubte an den Projekterfolg. Lediglich die Geschäftsführung hielt den Pleitegeier, der über dem Projekt kreiste, für einen stolzen Adler im Aufwind. Gegenüber den Kunden blieb sie bei den Terminzusagen, obwohl jeder Projektbeteiligte wusste, dass der Projektplan obsolet war. Als das Projekt dann mit 24 Monaten Verspätung abgeschlossen wurde, war das Produkt längst keine Innovation mehr, und das Budget hatte alle Grenzen gesprengt. Das Unternehmen stand kurz vor der Insolvenz, Euphorie und Optimismus hatten es an den Rand des finanziellen Ruins gebracht.

Bewahren Sie einen kühlen Kopf!

Die meisten Unternehmen unterschätzen den Aufwand an Zeit, Geld und Personal, den ein größeres Projekt erfordert. Sie wollen nicht wahrhaben, dass spätestens bei der technischen Umsetzung immer wieder Probleme auftauchen, deren Lösung Zeit kostet. Kommen dann noch Euphorie und übertriebener Optimismus hinzu, lässt sich fast sicher vorhersagen: Je weiter das Projekt fortschreitet, desto mehr werden die Termine überzogen, die Mitarbeiter überfordert und das Budget überschritten.

Wenigstens einer sollte einen kühlen Kopf bewahren: der Projektleiter. An ihm liegt es, Argumente zu sammeln und die Diskussion anhand von Zahlen, Daten und Fakten zu versachlichen. Hierzu kann er Schätzungen und Tests anstellen, die ihm recht zuverlässige Anhaltspunkte liefern. Klar ist aber auch: Je genauere Schätzergebnisse er möchte, desto detaillierter muss die Schätzgrundlage sein – und desto höher wird der Aufwand.

Solange Projektziele und Aufgaben nur vage formuliert sind, fallen auch die Schätzungen nur vage aus. Die Schätzgrundlage verbessert sich deutlich, wenn der Projektleiter mit seinem Team einen ersten groben Projektplan erarbeitet und gemeinsam eine Risikoanalyse durchgeführt hat. Die Beteiligten blicken nun den Gefahren ins Auge – übertriebener Optimismus weicht einer realistischeren Sichtweise.

Vor allem bei größeren IT-Projekten ist es üblich, einen Proof of Concept (PoC) oder einen Livetest durchzuführen. Der Livetest ist eine Art Probefahrt, bei der ein künftiger Anwender die einzelnen Funktionen des geplanten Produkts bereits „live” vorgeführt bekommt. Noch einen Schritt weiter geht der Proof of Concept, bei dem sogar schon ein Prototyp des Produkts vorgestellt wird. Beide Methoden können einen heilsamen Schock auslösen: Die Optimisten im Hause erkennen, dass das Produkt keineswegs so überragend ist, wie allenthalben geglaubt wird. So kann ein fragwürdiges Projekt gestoppt werden, bevor es richtig teuer wird.

Viele Projekte, etwa die Investition in Maschinen und Anlagen, ermöglichen natürlich keine Tests im Vorfeld. In diesem Fall können Sie vergleichbare Fälle recherchieren und sich Referenzinstallation nennen lassen, die in wesentlichen Punkten vergleichbare Anforderungen ausweisen. Warum nicht das genannte Unternehmen aufsuchen und mit den Anwendern sprechen? So lässt sich herausfinden, ob das Produkt hält, was die Optimisten sich davon versprechen.

Eines gilt für alle Methoden: Um zuverlässige Ergebnisse zu erhalten, benötigen Sie Erfahrung und Fingerspitzengefühl. Wenn das Unternehmen mit dem Projekt Neuland betritt, sollten Sie als Projektleiter daher auch Experten von außen zu Rate ziehen. Selbst dann kommt es aber immer wieder zu heftigen Diskussionen, weil Erfahrungswerte und Sichtweisen der Beteiligten unterschiedlich sind.

Wenn die Geschäftsleitung trotz aller Argumente an dem Vorhaben festhält und das Unternehmen mit dem Projekt in ein schwer kalkulierbares Abenteuer stürzt, bleibt Ihnen noch eine wichtige Vorkehrung zu treffen: Sie sollten mit dem Auftraggeber klare Ausstiegskriterien vereinbaren. So können Sie, wenn die ursprünglich geschätzten Zeit- und Kostenaufwände dann tatsächlich aus dem Ruder laufen, das Projekt konsequent stoppen und rechtzeitig das Weite suchen …

Mario Neumann

Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.