Die Weisheit der Vielen
Ich stelle Menschen gerne Fragen, weil mich ihre Arbeit, ihre Strategien, ihre Standpunkte oder ihre Thesen interessieren. In meinem Online-Magazin möchte ich die Antworten meiner Interviewpartner gerne mit Euch teilen. Heute habe ich meine FÜNF FRAGEN an Christian Bernhardt gestellt.
Mario: Intuitiv nutzt Führung schon seit Jahrzehnten die Vorteile der Diversität und die Weisheit der Vielen. Das bewährte Mittel funktioniert besser denn je: Die Anzahl der Projekte steigt von Jahr zu Jahr. Sie sind in unserer volatilen, vielschichtigen Welt das Mittel der Wahl, um Lösungen für komplexe Problemlagen und Herausforderungen zu kreieren. Doch Projekt ist nicht gleich Projekt: Während die einen die erhofften Erwartungen übertreffen, sind andere reine Zeitfresser. Einer der zentralen Erfolgsfaktoren, damit Führung in Projekten erfolgreich gelingt, ist Wertschätzung. Ich habe Christian Bernhardt gefragt, wie man dabei am besten vorgeht.
Warum ist Wertschätzung für eine erfolgreiche Projektleitung so wichtig?
Christian: Druck erzeugt Gegendruck. Projektarbeit ist ein kooperativer und kreativer Prozess. Wer in diesem Setting versucht, über Autorität zu führen, merkt schnell, dass die Peitsche zwar bei motorischen Tätigkeiten funktioniert, aber Gift für kreative Prozesse ist. Druck macht Kollegen zu Konkurrenten und erstickt den kreativen Flow im Keim. Es geht nur miteinander und das Mittel der Wahl ist Sog: Dieser zieht die Gruppe zur gemeinsamen Arbeit hin, während Druck sie auseinander diffundieren lässt. Um durch Sog zu führen, muss ich aber die Projektteilnehmer als Individuen wertschätzen und jeden dort abholen, wo er steht.
Eine Besonderheit der Projektarbeit ist, dass die Projektleitung nicht über die disziplinarische Führungsautorität verfügt. Wenn die Führung brüllt, aber nicht die Möglichkeit hat, etwaige Konflikte tatsächlich zu eskalieren, macht sie sich selbst zum zahnlosen Tiger, dem auf der Nase herumgetanzt wird. Mehr denn je sind also weiche Faktoren gefragt, um das Projektteam zusammenzuführen und gute Ergebnisse zu erzielen. Wenn wir von weichen Faktoren sprechen, sprechen wir von Beziehungen, Miteinander und Kultur: Wertschätzung ist der Schlüssel zu den Herzen der Mitarbeiter und der stärkste Hebel für ein gelingendes Miteinander – und so auch für den Projekterfolg.
Mario: Wie kann das in der Praxis aussehen?
Christian: Hier passt ein kleines Best-Practice: Ein erfolgreicher Projektmanager aus meinem Bekanntenkreis holt die einzelnen Mitglieder individuell ab, indem er sie zu Beginn unter vier Augen nach ihren Erwartungen und Zielen fragt. So weit so gut, das ist die Pflicht. Sein Erfolgsgeheimnis, die Kür, ist aber ein anderes: Er fragt im persönlichen Gespräch nämlich ganz konkret, wem im Unternehmen er nach einem erfolgreichen Projektverlauf welches Feedback über diesen Mitarbeiter geben soll. Das funktioniert. Die Mitarbeiter spüren, dass da kein Opportunist das Projekt führt, der sich später die Erfolge auf die eigene Flagge schreibt, sondern jemand, der ihren Einsatz wertschätzt und sich für sie stark machen wird. Nach den Vorgesprächen sind sie engagiert bei der Sache und müssen nicht erst mühevoll in Gruppendiskussionen vom Sinn des Projekts oder des eigenen Tuns überzeugt werden.


Foto: Christian Bernhardt
Mario: Was zeichnet eine wertschätzende Projektleitung konkret aus?
Christian: Ein Bonmot sagt, dass nichts auf der Welt so fair verteilt ist, wie die Intelligenz: Jeder meint, irgendwie schon genug davon zu besitzen. Ähnlich verhält es sich mit Wertschätzung. Diese wurde in den letzten Jahren zu einem vielstrapazierten Begriff. Dabei wohnt der Wertschätzung – ähnlich der Intelligenz – eine Besonderheit inne: Fast jeder vermisst sie ab und zu, während gleichzeitig alle der Meinung sind, anderen genug davon zu erweisen. Prinzipiell geht es bei wertschätzender Projektleitung um drei wichtige Punkte:
- Kontakt auf Augenhöhe herstellen.
- Ein Rollenverständnis entwickeln, das Führung als Dienstleistung und nicht als Privileg versteht.
- Die individuellen Besonderheiten, Erwartungen und Bedürfnisse der Projektmitglieder erkennen und würdigen.
Mario: Worauf muss ich konkret achten, damit das nachhaltig gelingt?
Christian: Hierzu zunächst ein kleiner Test für unsere Leser!
Vervollständigen Sie bitte, bevor Sie weiterlesen, spontan den folgenden Satz: „Die Welt ist voller…“
Was für ein Wort ist Ihnen als erstes in den Sinn gekommen? Und was hat das mit dem Transfer in die Praxis zu tun?
Um Wertschätzung tatsächlich auf einer tieferen Ebene zu vermitteln, darf sie nicht als neumodischer Trend, als lästiges Übel für die Führung übersensibler Mitarbeiter, als funktionierende Technik oder psychologischer Geheimtipp kommuniziert und verstanden werden. Die meisten Menschen merken nämlich recht schnell, um was es der Führung wirklich geht. Wir lesen zwischen den Zeilen und beurteilen andere anhand ihrer Intentionen und nicht anhand von Lippenbekenntnissen. So oder so rechnet sich Wertschätzung: Eine globale Studie von Heidrick Consulting, die 500 der erfolgreichsten Unternehmen der Welt untersuchte, belegte 2021, dass jene Unternehmen, die den Fokus auf Kultur und Wertschätzung legen, mehr als doppelt so erfolgreich sind, wie jene, die glauben, dass die harten Stellschrauben wie Strategie, Controlling und Co. die wirksamsten Erfolgstreiber sind. Weiche Skills bringen also die härtesten Ergebnisse.
Zurück zum Transfer – dieser gelingt folgendermaßen: Wer seine Mitmenschen glaubhaft wertschätzen möchte, muss eine Ebene tiefer ansetzen. Die drei oben genannten Wertschätzungs-Elemente (Augenhöhe, Rollenverständnis und individuelle Würdigung) haben nämlich gemeinsame Wurzeln, die in der Haltung und im Menschenbild der Führungskraft gründen. Die Studienlage der psychologischen Forschung ist hier, Stichwort Pygmalion-Effekt, recht eindeutig. Letztlich fügen sich unsere Mitarbeiter und Mitmenschen dem Bild, das wir von ihnen haben.
Wer also, um auf die Eingangsfrage zurückzukommen, der Ansicht ist, dass die Welt voller Wunder ist, wird seine Mitarbeiter anders behandeln, als jemand, der der Ansicht ist, die Welt sei voller Idioten. Sollte sich ein Leser gerade bewusstwerden, dass ein kontraproduktives Menschenbild seine Führungserfolge konterkariert, kann die Arbeit an den eigenen Glaubenssätzen und Paradigmen helfen, die Mitarbeiter und Mitmenschen in einem neuen Licht zu sehen. Ein guter Coach ermöglicht es, innerhalb kurzer Zeit die eigenen blinden Flecken zu erkennen und Engpässe aufzulösen.
Mario: Was lässt sich als Fazit für Projektleiter mit Führungsverantwortung ziehen?
Christian: Wir leben in einer Zeit, in der die beste Leistung aus intrinsischer Motivation und Beteiligung entspringt. In Projekten kann und wird diese nur hervortreten, wenn sich die Mitarbeiter als Menschen gesehen und gewürdigt fühlen. Die wertschätzende Haltung der Führungskraft macht hier den Unterschied zwischen Projekten, die man sich genauso gut hätte sparen können und jenen, die einen Unterschied machen und das Unternehmen weiterbringen.
Mario: Danke für das Interview.
Übrigens: Wer mehr Impulse für den nachhaltigen Transfer in die Praxis möchte, dem sei Christians neues Buch „Echte Wertschätzung“ empfohlen. Es ist ab dem 02. September 2022 erhältlich und enthält über 100 Micro Habits, direkt anwendbare Tools und Übungen.
Zur Person
Christian Bernhardt ist Hochschuldozent für nonverbale Kommunikation, Kommunikationspsychologie und Kommunikation im digitalen Raum. Der Fachbuchautor hält Vorträge und Hybrid-Trainings zu den Themen Recruiting sowie Wertschätzende Kommunikationskultur und berät dazu Unternehmen in Deutschland und der Schweiz. https://www.bernhardt-trainings.com


Mario Neumann
Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.