Die Geschichte vom toten Pferd
Eine uralte Weisheit der Dakota-Indianer besagt: „Wenn du entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest, steige ab.“ Die Metapher vom toten Pferd steht für die Neigung vieler Menschen, dem Unausweichlichen doch irgendwie ausweichen zu wollen. Deutlich wird das besonders bei Krisenprojekten: Allzu oft bleiben die Beteiligten im Sattel sitzen, obwohl das Pferd sie keinen Meter mehr weiterträgt.
Mit Feuereifer hat sich ein Industrieunternehmen in die Entwicklung einer neuen Produktreihe gestürzt. Alle hatten das perfekte Ergebnis vor Augen, an ein mögliches Scheitern dachte keiner: „Scheitern? Wir doch nicht!“ Einige Monate später steckt Franziska G., eine aufstrebende Entwicklungsingenieurin, bis zum Hals in Schwierigkeiten. Das Projekt hat mittlerweile Millionen verschlungen – und der Aufwand, es vielleicht noch mit letzter Kraft über die Ziellinie zu hieven, ist kaum noch zu rechtfertigen. Im Grunde weiß Franziska G. ganz genau: Das Projekt ist nicht mehr zu retten.
In der Theorie leuchtet es jedem ein: Es ist sinnlos, ein totes Pferd noch zu schinden. Doch in der Praxis wird genau das versucht. Auch wenn es eigentlich unsinnig ist, ein Projekt fortzuführen, wird es bis zum bitteren Ende durchgezogen. Grund dafür ist eine zutiefst menschliche Eigenart: Es fällt schwer, etwas loszulassen, für das man sich so sehr engagiert hat. Das Team möchte deshalb nicht aufgeben, und auch der Auftraggeber hofft, dass sein Geld für etwas gut war.
Ein ordentlich aufgesetztes Projekt hat klare Ziele und einen klar definierten Nutzen. Wenn dieser Nutzen nicht erreicht wird, obwohl bereits viel Geld ausgegeben wurde, sollte ein Projektabbruch ernsthaft erwogen werden.
Es will einfach keiner wahrhaben
Das Entwicklerteam im Projekt von Franziska G. versucht weiter, die neue Produktreihe zu realisieren. Doch die Probleme häufen sich. Unerbittlich rückt der vorgesehene Produktionstermin näher. Am Ende bleibt der Projektleiterin keine Wahl: In ihrer Präsentation vor der Geschäftsführung muss sie einräumen, dass sie das Projektziel nicht erreicht hat. Eigentlich ist jetzt jedem klar, dass es keine neue Produktlinie geben wird. Doch wahrhaben möchte man diese Tatsache nicht. Die Geschäftsführung besteht darauf, das Projekt durchzuziehen – gemäß dem Motto: „Wir haben schon so viel Aufwand in das Vorhaben gesteckt. Jetzt muss auch etwas herauskommen!“
Es geht weiter – Koste es, was es wolle
Es geht also weiter, koste es, was es wolle. Die Argumente, die in solchen Situationen herhalten müssen, gleichen sich: „Wir haben bereits 5.000 Mannstunden investiert, wir können das Projekt jetzt nicht abbrechen. Sonst wäre alles umsonst gewesen.“ Oder: „Das Projekt hat uns schon zwei Millionen Euro gekostet, jetzt müssen wir es auch zu Ende führen.“
Auch im Fall von Franziska G. hält die Geschäftsführung die gesamte Entwicklungsabteilung auf Trab, obwohl das Projekt nachweislich tot ist, wie die Projektleiterin ja in ihrer Präsentation dargelegt hat. Eigentlich paradox: Da sollen nach dem Willen der Geschäftsführung die Projektmitarbeiter auf ein totes Pferd steigen und noch monatelang darauf sitzen bleiben – in der Hoffnung, dass das Tier wieder aufsteht und losläuft.
Fehlender Mut zum Projektabbruch
Ein Projektabbruch wäre das Eingeständnis, dass Fehler gemacht wurden. Doch dazu fehlt oft der Mut. Dem Erfahrungsgewinn, der mit dem gescheiterten Projekt verbunden wäre, stünde ein beträchtlicher Imageschaden gegenüber. Am Projektleiter, dem Projektteam und der gesamten Organisation bliebe ein Makel hängen. Also versuchen die Beteiligten, dem Unausweichlichen doch noch zu entkommen. Statt vom toten Pferd abzusteigen, entwickeln sie Methoden und Strategien, um den Abbruch doch noch irgendwie zu vermeiden. Hierzulande ist es nun einmal unüblich, Projekte abzubrechen – auch wenn das manchmal sinnvoll wäre.
Kriterien für den Projektabbruch
Wenn es um die Frage eines Projektabbruchs geht, blicken die Beteiligten unwillkürlich in die Vergangenheit – auf die angefallenen Kosten und die vielen geleisteten Arbeitsstunden. Entscheidend sollte aber der Blick nach vorne sein:
- Lohnt sich ein weiteres Investment in das Projekt oder entstehen dann zusätzliche Defizite?
- Besteht die Möglichkeit, die Ziele noch zu erreichen? Oder zögern wir den Projektabbruch lediglich hinaus und verursachen dadurch weitere Kosten?
Im Prinzip lassen sich die Kriterien für einen Projektabbruch einfach bestimmen: Es gibt einen Projektauftrag und darin sind die Ziele aufgelistet. Diese Ziele sind gleichzeitig die Kriterien für einen möglichen Projektabbruch. Ist im Laufe des Projekts absehbar, dass die Ziele nicht erreicht werden, sollte der Projektleiter laut und deutlich „Stopp“ rufen. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn zu einem bestimmten Meilenstein der Großteil des Budgets bereits verbraucht ist.
Das Problem ist nur: In großen Projekten weiß oft keiner so genau, was in den verschiedenen Teilprojekten läuft und welche Fortschritte erreicht oder nicht erreicht wurden. Damit ist auch unklar, wo genau das Projekt steht – und inwieweit möglicherweise die Abbruchkriterien erreicht sind.
Klare Ausstiegsstellen definieren
Um zum richtigen Zeitpunkt über einen Projektabbruch entscheiden zu können, braucht es daher ein eigenes Instrumentarium. Zu Beginn des Projekts wird ein Kriterienkatalog festgelegt, der es ermöglicht, das Projekt jederzeit auf einen möglichen Abbruch hin zu untersuchen.
Anhand dieser Kriterien lässt sich nach jeder Projektphase beurteilen, ob das Projekt weitergeführt werden kann oder besser abgebrochen werden sollte. Festgestellt wird, ob das Projekt die Bedingungen an den jeweiligen Meilensteinen und Quality Gates erfüllt – sprich: die zeitlichen und qualitativen Kriterien einhält. Es bietet sich an, die Entscheidungssituation mit einem Ampelsystem zu visualisieren. Stehen die Zeichen auf Grün, kann das Projekt den Meilenstein und das „Qualitätstor“ passieren; das Projekt gelangt in die nächste Phase und erhält hierfür die nötigen Ressourcen. Leuchtet die Ampel rot, muss darüber diskutiert werden, ob das Projekt noch fortgesetzt wird.
Natürlich macht auch eine solche professionelle Vorgehensweise einen Projektabbruch nicht zu einem freudigen Ereignis. Doch sie begrenzt den Schaden. Das Vorgehen ist für die Projektbeteiligten nachvollziehbar, was ihre Enttäuschung und Entmutigung über das Projektende zwar nicht beseitigt, aber doch mildert.
Survival-Tipps
- Denke an die alte Weisheit: „Wenn du entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest, steige ab.“ Oder sorge für einen bequemen Sattel – es könnte ein langer und ungemütlicher Ritt werden.
- Zeige die Konsequenzen auf, die das Weiterführen des Projektes haben würde. Wenn Schaden droht, findet man in der Regel Gehör bei den Verantwortlichen.
- Nutze Quality-Gates. Sie helfen anhand vorgegebener Kriterien, eine rasche Entscheidung zu treffen, ob an dem Projekt weitergearbeitet werden kann und soll.
- Lege fest, welcher Nutzen am jeweiligen Meilenstein erreicht ist. Wird dieser Nutzen nicht erzielt, sollte ein Projektabbruch in Erwägung gezogen werden.
- Trauen Dich, Fehler einzuräumen. Es ist in Ordnung, einen Fehler zu machen und daraus zu lernen. Nicht in Ordnung wäre es, den Fehler noch einmal zu machen.
- Wenn entschieden ist, ein Projekt abzubrechen: Lass es nicht einschlafen, sondern beende es ganz offiziell
Mario Neumann
Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.