Die edlen Leiden der Superhelden
Der Projektleiter verteilt die anstehenden Aufgaben an seine Teammitglieder – das klingt einfach und selbstverständlich. Tatsächlich tun sich manche Projektleiter enorm schwer damit, Aufgaben abzugeben. Sie führen dafür jede Menge Gründe an, die alle nicht wirklich stichhaltig sind. Letztlich liegt das Problem in der eigenen Einstellung: Delegieren heißt, loslassen und anderen vertrauen.
„Wie soll ich das nur alles schaffen?“ stöhnt Carina B. „In diesem Projekt sind so viele Aufgaben zu erledigen, dass ich schon nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht.“ „Warum lässt Du die Machbarkeit der Lösung nicht von Timo prüfen? Der hat noch etwas Luft“, entgegnet ihr Chef. Carina weist den Vorschlag weit von sich: „Timo!? Der kennt sich damit doch gar nicht aus! Bis ich ihm die Aufgabe erklärt habe, habe ich das längst selbst geprüft.“
Wäre Carina B. ehrlich zu sich selbst, müsste sie zugeben: In Wahrheit fällt es ihr schwer, anderen Menschen eine verantwortungsvolle Aufgabe zu übertragen und darauf zu vertrauen, dass sie es richtig machen.
Ein Projekt hat jede Menge Aufgaben, die nach Plan erledigt werden müssen. Da liegt es eigentlich auf der Hand, dass der Projektleiter die Arbeit im Team verteilt. Schließlich ist das ja die Idee eines Projektes: Experten aus unterschiedlichen Bereichen des Unternehmens kommen zusammen, um gemeinsam ein festgelegtes Ziel zu erreichen. Dennoch neigen viele Projektleiter dazu, Projektaufgaben selbst zu übernehmen, anstatt sie an Teammitglieder abzugeben – und geraten so in die Lage von Carina B.: Alles bleibt an ihnen hängen, sie sind heillos überfordert. So stehen sie am Ende dem Projekterfolg selbst im Wege.
Delegieren zählt zu den Kernaufgaben eines Projektleiters. Deshalb ist es wichtig, die Scheu davor zu überwinden. Auf lange Sicht wird ein Projektleiter nur erfolgreich sein, wenn er es versteht, Aufgaben konsequent an seine Mitarbeiter abzugeben.
„Keiner kann das so gut wie ich!“
Obwohl sie es vermutlich nie zugeben würden: Manche Projektleiter glauben von sich, die einzige Person unter der Sonne zu sein, eine bestimmte Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit aller erledigen können. Sie sind absolut davon überzeugt, selbst die Aufgabe am besten und am schnellsten erledigen zu können. „Gerade jetzt und bei diesem Kunden“, so heißt es dann, „können wir uns nun wirklich keine Fehler erlauben!“
Falsch! Natürlich brauchen die Mitarbeiter am Anfang etwas länger und machen vielleicht auch Fehler. Lässt man sie aber selbständig agieren, werden sie immer besser. Mit der Zeit sind sie mindestens ebenso gut wie ihr Projektleiter – wenn nicht sogar besser!
„Das ist doch zu viel Aufwand!“
Manche Projektleiter haben schlicht keine Lust, Aufgaben zu delegieren und dann die Ergebnisse zu kontrollieren. Sie scheuen den Aufwand, eine Aufgabe zu erklären und nachzuverfolgen. Ihr Credo: „Hey, in der Zeit kann ich die Aufgabe auch gleich selbst erledigen, oder!?“
Falsch! Das mag vielleicht auf einige kleine Einzelaufgaben zutreffen, aber bestimmt nicht auf die gängigen Projektaufgaben. In aller Regel nimmt das Erklären und Nachverfolgen der Aufgabe weniger Zeit in Anspruch als deren Ausführung.
„Wenn sich keiner freiwillig meldet …“
Wieder andere Projektleiter versuchen ums Delegieren herumzukommen, indem sie darauf hoffen, dass Freiwillige auf sie zukommen und ihnen die Projektaufgaben abnehmen. „Wenn die anderen nichts zu tun haben und die Arbeit sehen“, so machen sie sich vor, „werden sie sich schon melden.“
Falsch! – Von Ausnahmefällen abgesehen dürfte es keinen Mitarbeiter geben, dem im Arbeitsalltag so langweilig ist, dass er sich um eine Projektaufgabe reißt. Ein Projektleiter darf sich deshalb nicht auf Freiwilligkeit verlassen. Schließlich ist er der Projektleiter – und muss die Aufgaben verteilen!
„Immer bleibt alles an mir hängen!“
Ist es nicht cool, vor Kollegen angeben zu können, wie unglaublich wichtig man ist? Manche Projektleiter erliegen diesem Wunsch. „Immer bleibt alles an mir hängen, weil niemand sonst die Aufgaben erledigen kann“, verkünden sie. In edlem Leiden ertragen sie ihr Schicksal, während sich die Arbeit auf dem Schreibtisch stapelt. „Die anderen werden bewundernd zu mir aufblicken…“
Falsch! – Niemand blickt bewundernd auf einen Projektleiter, der in seiner Arbeit absäuft. Mag sein, dass er sich eine Zeitlang als Superheld fühlt. Früher oder später werden ihn Stress und Überlastung aufzehren.
„Und was mach‘ ich dann noch?“
Oft übernehmen Fachexperten die Leitung eines Projekts, die sich bisher über ihre fachlichen Leistungen definiert haben. Es mag sich lächerlich anhören, aber manchen von ihnen beschleicht das Gefühl, in ihrer neuen Rolle „nur noch“ zu organisieren: „Wenn alle anderen die Arbeit erledigen – wozu werde ich dann noch gebraucht?“ Also stürzen sie sich in fachliche Aufgaben, die eigentlich Mitglieder ihres Teams übernehmen sollten.
Falsch! – Kein Projektleiter macht sich überflüssig, wenn er delegiert. Im Gegenteil: Seine Rolle liegt nicht darin, möglichst viel selbst zu erledigen, sondern die Kompetenzen des gesamten Teams optimal zu nutzen. Das schafft er nicht, wenn er alle Aufgaben bei sich behält.
„Ob die das wohl hinbekommen?“
Der tiefere Grund, der oft hinter den genannten Gründen steht, hat mit Vertrauen und Selbstvertrauen zu tun: Viele Projektleiter vertrauen weder ihren Mitarbeitern noch sich selbst. Weder halten sie ihre Mitarbeiter dazu in der Lage, eine Aufgabe gut zu erledigen – noch trauen sie sich selbst zu, die Mitarbeiter zu befähigen, einen guten Job zu machen. „Ich könnte die Kontrolle verlieren“, fürchten sie. „Die Mitarbeiter könnten Dinge entscheiden, die nicht in meinem Sinne sind. Die Kunden könnten unzufrieden werden…“
Diese Ängste gilt es zu überwinden: Traue Deinen Mitarbeitern etwas zu! Vielleicht hilft dabei der Gedanke, auf diese Weise den Aufgabenberg abzubauen – und endlich einmal wieder pünktlich nach Hause zu kommen.
Survival-Tipps
- Spiele nicht den Superhelden! Es grenzt an Überheblichkeit, wenn Du glaubst, nur Du allein könntest eine Aufgabe zur Zufriedenheit aller erledigen.
- Lass‘ Dich nicht vom Aufwand abschrecken, der mit dem Delegieren verbunden ist. Das Übertragen von Aufgaben kostet weniger Zeit als deren Ausführung.
- Rechne nicht damit, dass Dein Umfeld die anstehenden Aufgaben von selbst erkennt und sich Freiwillige dafür melden werden. Du sitzt am Ruder! Delegieren passiert nicht von unten!
- Spiele nicht den edlen Samariter! Es dankt Dir niemand, wenn Du alles selbst machst und es so aussehen lässt, als ginge ohne Dich im Projekt gar nichts.
- Begreife, dass es in der Rolle des Projektleiters nicht mehr (nur) um Deine fachliche Expertise geht. Entscheidend ist es vielmehr, die Kompetenzen im Team zu nutzen. Das schaffst Du nicht, wenn Du alles selbst machst.
- Beherzige: Delegieren heißt, loslassen können und anderen vertrauen. Nur so kommst Du endlich wieder pünktlich aus dem Büro nach Hause
Mario Neumann
Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.