Führung

Nachgefragt – bei Timm Urschinger

Von am 05.05.2023

Ich stelle Menschen gerne Fragen, weil mich ihre Arbeit, ihre Strategien, ihre Standpunkte oder ihre Thesen interessieren. Für meine Kolumne NACHGEFRAGT habe ich das Gespräch mit Timm Urschinger gesucht. Er ist überzeugt, dass es in einem selbstorganisierten Unternehmen auch weiterhin Führungskräfte – dann aber selbstverantwortliche – braucht. Ich habe bei Timm Urschinger nachgefragt, wie diese „neuen“ Führungskräfte ihr Team in diesem Prozess am besten begleiten und unterstützen können.

Mario: Der Ruf nach Selbstorganisation wird immer lauter. Häufig wird Selbstmanagement mit einem Unternehmen ohne formale Hierarchien gleichgesetzt. Timm, wie siehst du das bzw. treffen hier nicht sehr unterschiedliche Definitionen von Freiheit und Verantwortung des einzelnen bzw. Erwartungen an Organisation und Führung aufeinander?

Timm Urschinger: Ohne Zweifel müssen Unternehmen diesem Ruf gerecht werden. Sie brauchen dezentrale statt der bisherigen traditionellen Strukturen, um in Zukunft zu überleben. Leider hindern Hierarchien viele Unternehmen daran, sich schnell genug weiterzuentwickeln. Umgekehrt wird Selbstverwaltung oft mit keinerlei Hierarchie in Verbindung gebracht? Für mich stimmt das nur bis zu einem gewissen Grad. Ja, Mitarbeitende in selbstverwalteten Unternehmen haben die Freiheit, ihre Zeit und ihre Arbeit so zu organisieren, wie es ihren individuellen Bedürfnissen am besten entspricht. Sie wissen aber auch, was von ihnen erwartet wird und dass ihre Beiträge zu den übergeordneten Zielen des Unternehmens beisteuern müssen. Organisationen, die mit selbstverwalteten Teams arbeiten, sind also nach wie vor darauf angewiesen, dass „Vorgesetzte“ Input geben und manchmal sogar Anweisungen erteilen. Dies geschieht jedoch eher auf der Basis von „Vertrauen und Bestätigung“ als im traditionellen Stil von „Befehl und Kontrolle“.

Mario: Keine leichte Aufgabe für Führungskräfte, die oft in alten Mustern gefangen sind, oder?  

Timm Urschinger: Absolut! Die Herausforderung besteht darin, die Richtung vorzugeben und dabei die Balance zwischen größerer Autonomie und dem Wachstum des Unternehmens zu wahren. Ohne diese Orientierung führen Entscheidungen möglicherweise nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Ein Mangel an Orientierung hat allerdings noch eine ganz andere Auswirkung: Mitarbeitende stellen Verantwortlichkeiten in Frage. Die Folgen sind unnötige Revierkämpfe und Abteilungssilos. Schaffen es Unternehmen allerdings gemeinsam mit ihren Führungskräften, Selbstmanagement am Arbeitsplatz zu kultivieren, können Mitarbeitende ihre Fähigkeiten zur Förderung des individuellen Wachstums einsetzen – und das Wachstum des Unternehmens folgt automatisch.

Foto: Timm Urschinger

Mario: In der Vergangenheit war eine Hauptaufgabe der Führungskraft Budgets, Zielerreichung, Zeiterfassung und mehr zu kontrollieren. Wie sieht das zukünftig aus?

Timm Urschinger: All das ist auch in der selbstorganisierten Zukunft wichtig, allerdings wird dies jeder für sich selbst oder gemeinsam mit dem Team tun. In selbstverwalteten Unternehmen gibt es zum Beispiel keine zentrale Zeitbuchung mehr. Jeder achtet darauf, dass er nicht zu viel oder zu wenig arbeitet, je nach arbeitsrechtlichen Bestimmungen und individuellen Möglichkeiten. Diese neue Struktur bringt viele Vorteile für den Einzelnen und das Unternehmen mit sich. Die damit einhergehende Eigenverantwortung führt zu einer höheren Bindung der Mitarbeitenden, weil die Arbeitszufriedenheit steigt. Selbstverwaltung fördert die Innovation, schafft einen Ressourcenfluss, der die Arbeitsabläufe verbessert, und ermöglicht es den Teammitgliedern, flexibler auf sich ständig verändernde Märkte zu reagieren. Selbstverantwortliche Führungskräfte in einem selbstorganisierten Unternehmen ernten schon bald die Vorteile eines kontinuierlich selbstverwalteten Team- und Geschäftserfolgs. Eine kleine Studie aus dem Jahr 2020 ergab, dass 100 % der Unternehmen mit dezentralen Managementstrukturen ein positives Wachstum der Kapitalisierung am Markt verzeichneten, während nur 33 % der Unternehmen mit traditionellen Strukturen dies von sich behaupten konnten.

Mario: Wie können Führungskräfte ihren Mitarbeitenden ganz konkret dabei helfen, die notwendigen Fähigkeiten zur Selbstorganisation zu entwickeln?

Timm Urschinger: Äußerer Wandel erfordert zuallererst inneren Wandel. Der persönliche Entwicklungsweg jedes Teammitgliedes ist der Schlüssel zum Aufbau von Selbstmanagementfähigkeiten. Führungskräfte sollten ihre Teammitglieder also unbedingt dazu ermutigen, sich selbst zu verwirklichen. Dafür braucht es vor allem einen sicheren Raum, in dem Authentizität geschätzt wird und Führungskräfte wirklich zuhören. Mein Tipp: Würdigt Unterschiede zwischen den einzelnen Mitarbeitenden. Stellt eure Meinung einmal hinten an, sofern ihr nicht einen ernsthaften Einwand (z. B. signifikantes Risiko für die Firma/das Geschäft) habt und lasst Mitarbeitende ihre eigenen Erfahrungen machen.

Mario: Gerade bei der Entscheidungsfindung gehen Führungskräfte ja nicht immer transparent vor und behandeln Informationen oft als etwas, das man haben oder wissen muss. Braucht es hier also im Umgang mit Mitarbeitenden nicht nur Ziele und Pläne, sondern auch mehr Spontaneität?

Timm Urschinger: Das Erlernen von Spontaneität – oder zumindest die Unterstützung von mehr Spontaneität am Arbeitsplatz – hängt oft, auch wenn es im ersten Moment widersprüchlich klingt, mit Plänen und Zielen zusammen. Pläne, insbesondere langfristige, können sich ändern. Führungskräfte müssen diese Tatsache verstehen und dem Team vermitteln. Das soll nicht heißen, dass eine Organisation ohne Struktur arbeiten soll, sondern vielmehr mit einer Struktur, die organisch ist, um Kreativität, kritisches Denken und intrinsische Motivation zu fördern. Für Unternehmen geht es meiner Erfahrung nach vor allem darum, bewusste Entscheidungen zu treffen. Was diese Entscheidungen anbelangt, so können in einer selbstverwalteten Teamstruktur alle Mitarbeitende ihren Beitrag leisten – mit ein oder zwei Einschränkungen, beispielsweise wenn es um erhebliche Kosten geht. Damit Unternehmen die kollektive Intelligenz und Zusammenarbeit des Teams nutzen können, sollten deshalb die Mitarbeitenden auch Zugang zu allen notwendigen Geschäftsinformationen (Ausnahme bilden gesetzliche Datenschutzverpflichtungen) haben.

Mario: Abschließend noch eine letzte Frage, Timm. Was ist deiner Meinung nach die größte Gefahr für Führungskräfte beim Aufbau einer selbstverwalteten Teamstruktur?

Timm Urschinger: Man muss sich von der Idee der Harmonie lösen und sich auf Spannungen einlassen, die am Arbeitsplatz unweigerlich entstehen. Andernfalls wird die Positivität zu einer Illusion, die zerbricht, wenn die Hindernisse wachsen. Führungskräfte müssen den gerade schon einmal erwähnten sicheren Raum nutzen, um offen zu diskutieren, was im Team vor sich geht. Mit gutem Beispiel vorangehen, Mitarbeitende ermutigen, aktiv zuzuhören – so gelingt es, die Standpunkte der anderen Parteien zu verstehen (das Gehirn kann sehr gut unterscheiden zwischen Verstehen und Einverstanden sein), sowie die Verantwortung für die eigene verbale und nonverbale Kommunikation zu übernehmen. Scheuen wir also nicht vor konstruktiven Konflikten zurück, sondern begegnen diesen direkt, ohne Schuldzuweisungen und Diskussionen über richtig oder falsch. Um gemeinsam mit allen Beteiligten eine Lösung zu finden, ist beispielsweise Patrick Lencionis Pyramide mit seinen 5 (Dys-)Funktionen eines Teams sehr hilfreich.

Mario: Lieber Timm, herzlichen Dank, dass ich bei Dir nachfragen durfte.

Zur Person

Timm Urschinger ist Mitgründer und CEO von LIVEsciences. Nach dem Studium sowie einigen Jahren bei einem bekannten Pharma-Konzern in der Schweiz und im Consulting beschloss er ein eigenes Unternehmen zu gründen. Seine Erfahrung im Management globaler Programme und Transformation hat in ihm die Leidenschaft geweckt, pragmatische und innovative Lösungen zu entwickeln – für das eigene Unternehmen und für Kunden. Neue Organisationsmodelle wie Teal spielen dabei eine ebenso große Rolle, wie die Selbstführung und dass Menschen endlich wieder Sinn und Spaß im Berufsleben erfahren.