Ganzheitlich herangehen (2)
Die Menschen mit ihrem Denken, Fühlen und Wollen wahrnehmen
Ganzheitlichkeit bei den Psychotherapeuten
Wenn der Körper leidet, dann leidet auch die Psyche. Ist die Psyche angegriffen, kann dies zu einer Beeinträchtigung der geistigen Leistungen und Qualitäten führen. Und es kann zu unmittelbarer körperlicher Reaktion führen. Alle Ebenen und Bereiche hängen zusammen, wirken miteinander und aufeinander.
Aus der ganzheitlichen Sicht der Individualpsychologie nach Alfred Adler ist der Mensch unteilbar. Körper, Geist und Seele bilden eine Einheit, und Störungen in einem Bereich haben Auswirkungen auf andere Bereiche. Im Rahmen einer individuellen Therapie können angelegte Eigenarten und Potenziale, innerseelische Konflikte und Blockaden sowie schicksalhafte Ereignisse, mit denen Menschen im Laufe ihres Lebens konfrontiert wurden, bewusstgemacht und verstanden werden.
Der Psychotraumatologe Franz Ruppert sagt: „Die Trennung der körperlichen und psychischen Seite eines lebendigen Menschen mag zwar aus theoretischen und analytischen Gründen Vorteile haben, aus praktischer Sicht ist sie meines Erachtens nicht haltbar. Wenn wir an uns selbst Körper und Psyche als etwas Getrenntes auffassen oder wenn wir bei anderen Menschen deren Körper und Psyche als etwas nicht Zusammengehörendes behandeln, spalten wir. Damit können wir uns selbst oder anderen im Endeffekt sogar Gewalt antun. Im Extremfall gehen wir mit der Ganzheit eines lebendigen Menschen um, als wäre er entweder nur geistloses Fleisch oder ein fleischloser Geist. Jeder Mensch ist aber in jeder Sekunde seiner Existenz, mit jeder Faser seines Wesens eine Einheit von Materie, Energie und Information, die sich gemeinsam entwickelt.“ Ruppert 2012, 26


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Viele psychotherapeutische Institute verwenden für ihre Arbeit das Wort „ganzheitlich“, allein weil sie sich auf mehrere Therapieansätze stützen. Dies bedeutet für den Therapeuten, sich nicht auf eine Therapieform zu beschränken, sondern alle Therapieansätze und -konzepte zu nutzen, die er beherrscht und die er für das Therapieziel als hilfreich ansieht. Dabei ist aber nicht immer sichergestellt, dass der Klient wirklich in allen wichtigen Aspekten und Zusammenhängen gesehen wird. Sehr oft fehlt bei diesen „ganzheitlichen“ Therapiekonzepten zum Beispiel die Einbeziehung der Körperlichkeit.
Ganzheitlichkeit in der Teamdynamik
Natürlich gehört Ganzheitlichkeit auch zur Philosophie der Angewandten Teamdynamik.
Das heißt, Teamdynamiker werden versuchen, den Menschen in allen seinen Bezügen und Ebenen, in seiner Gesamtheit als integrales Wesen zu sehen.Teamdynamiker nehmen den Menschen mit seinem Denken, Fühlen und Wollen und nehmen dabei auch sein soziales und kulturelles Umfeld mit in den Blick. Der Mensch besitzt eine rationale wie eine emotionale Intelligenz. Jeder bringt zudem eine mehr oder weniger verankerte spirituelle Erfahrung mit, die in der Interaktion auf einer tiefen Ebene mitwirkt.
Dies sind die Ebenen, die die Teamdynamiker in der Interaktion vorrangig wahrnehmen, in ihrer Interdependenz erkennen und mit Impulsen versorgen:
- das Mentale, das Kognitive
(lat.: mens = Geist, Verstand, Vernunft) - das Biologische, das Somatische
(griech.: bíos = Leben) (griech.: soma = Körper, im Gegensatz zu Geist, Seele, Gemüt) - das Psychische, das Emotionale
(griech.: psyché = Seele) - das Soziale
(lat.: sociālis = gesellschaftlich, gesellig) - das Kulturelle
(lat.: cultūra = Landbau, Pflege des Körpers und Geistes) - das Spirituelle
(lat.: spīritus = Geist, Hauch, Atem)
Leider gibt es keinen deutschen (ersatzweise griechischen oder lateinischen) Begriff, der dieses alles umfasst. Wir sind im Deutschen gezwungen, mit Bindestrichbegriffen zu hantieren.
Eine Wort-Trilogie, die unter Psychologen, Psychotherapeuten und Medizinern Wellen geschlagen hat, ist das „biopsycho-soziale“ Konzept. Jeder Autor und Wissenschaftler packt eben das in ein Bindestrichwort, was er bei seiner Betrachtung in Wechselwirkung sieht und bei seinem methodischen Ansatz besonders berücksichtigt. So sind in der Angewandten Teamdynamik die Begriffe „sozio-kulturell“ und „sozio-emotional“ sicherlich ganz zentrale, wesentliche Attribute.
Ganzheitlichkeit in der Weiterbildung
Was bedeutet diese Bindestrich-Ganzheitlichkeit für die Weiterbildung und Erwachsenenbildung? Für die Moderation, für das Engagement der
Dozentin, der Lehrerin, des Trainers? – Es bedeutet, den teilnehmenden Menschen ganz und gar anzunehmen, ihm auf allen Ebenen zu begegnen, auf denen man ihn überhaupt wahrnehmen kann. Das bedeutet zunächst, ihn im Seminarhaus oder im Workshop als willkommenen Gast zu sehen, für seine Sicherheit und sein Wohlbefinden zu sorgen, ihn zu bewirten, gegebenenfalls zu beherbergen, also seinen Körper willkommen zu heißen und zu versorgen. Es bedeutet dann, sich geistig mit ihm auseinanderzusetzen, seinen Intellekt anzusprechen, seine Seele, seine Gefühle wahrzunehmen, mit ihm nicht nur verbal, sondern bewusst auch nonverbal zu kommunizieren und schließlich ihn als Freund und kulturellen Weggenossen wahrzunehmen, der in seinem Leben nicht nur Aufgaben erledigt, sondern auch ein Spieler und Künstler ist.
Ganzheitlichkeit bedeutet in der Weiterbildung natürlich nicht, dass immer alle Aspekte und Ebenen zugleich betrachtet und alle Methoden zugleich angewandt werden. Niemand kann jederzeit alles im Blick haben. Niemand kann alle Ebenen gleichzeitig bedienen. Ganzheitlichkeit bedeutet für den Weiterbildner, dass er sich auf den wichtigsten Ebenen der Interaktion auskennt, dass er den Fokus treffsicher auf diejenige Ebene lenkt, auf der er mit dem Teilnehmer in Resonanz treten kann.
Fazit
Ganzheitlichkeit ist genauso vielfältig wie beliebig. Wir müssen uns nur darüber im klaren sein, welche Ebenen wir einbeziehen und dass dies mit großer Wahrscheinlichkeit nicht alle Ebenen sind. Sehr wohl können wir nach Ganzheitlichkeit streben, wir dürfen uns nur nicht einbilden, sie tatsächlich erreicht zu haben. Wir versuchen aber alle inneren und äußeren Bedingungen zu sehen, die den Menschen zum einzigartigen Individuum machen. Vielleicht streben wir besser nach „Vielseitigkeit“, „Vielschichtigkeit“ oder „Vielfältigkeit“ statt nach der undefinierten „Ganzheitlichkeit“.


Mario Neumann
Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.