Well Team Times Nr. 248

„Who is who“ im Trainingsteam?

Von am 12.07.2021

Wer ist wer in einer Gesellschaft, in einem sozialen System? Das ist immer wieder eine schwierige, manchmal sogar eine konflikthaltige Frage. – „Wer bin ich?“ ist für die meisten schon schwierig genug. Diese Frage wird in der Angewandten Teamdynamik abgelöst von der einfacheren
Frage „Wer bin ich jetzt hier?“ Die Antwort hängt aber davon ab, wer die anderen sind. Es geht um die Struktur im jeweiligen Sozialsystem, wo es vermutlich auch ein Oben und Unten gibt.

Die Sozialstruktur in einer Gruppe zu enttabuisieren und transparent zu machen wird mitunter kritisch gesehen. Denn dann sieht ja jeder, wer im Ansehen der Gruppe welchen Rang hat. Da geht es dann nicht mehr nach Alter, Dienstalter oder anderen festen Fakten, sondern nach der Einschätzung durch die anderen. Man nennt es Fremdeinschätzung, obwohl die „Schätzer“ ja gar nicht fremd sein müssen. Auf jeden Fall wird geschätzt, nicht gemessen. Das Messbare gehört in den Abschnitt „Skalierung nach Fakten“.

Bedeutung der Sozialstruktur im Team

In einem Team ist die Offenlegung der Sozialstruktur eine ziemliche Herausforderung. Aber es ist für die Funktion und den Erhalt des Systems überaus wichtig, dass diese Struktur erkannt und anerkannt wird – natürlich auch, dass sie sich verändern und entwickeln kann.

Wie wird der Einzelne von den anderen eingeschätzt? Dies zu enthüllen, finden manche „grausam“. Sie würden lieber jedem Komplimente machen. Schließlich könne man doch nicht jemandem zu verstehen geben, dass er hier „der Letzte“ sei, da würde man ihn doch „verletzen“. Aber die Erfahrung zeigt: Ein Team wird erst stabil durch eine mehrheitlich anerkannte soziale Ordnung, eine erkennbare Struktur der sozialen Potenziale.

Wer gibt den Ton an? An wen kann man sich halten? Wem kann man eine spezielle Aufgabe anvertrauen? Wer kann wem das Wasser reichen? Wer sagt wem, was Trumpf ist?

Ist in einem Team das soziale Ranking nicht klar und transparent, dann flüchten sich die Teammitglieder auf die Sachebene und verbeißen sich leicht in Diskussionen, um dort die Struktur „so nebenbei“ klarzustellen. Rechthaberei, Besserwisserei und lange Debatten sind ein Zeichen dafür, dass die Sozialstruktur noch nicht für jedermann klar ist. Es ist für jeden leicht, andere einzuschätzen. Man steht drüber, betrachtet seine Kollegen, fällt sein Urteil und verteilt seine Sympathien. Es macht aber Angst, wenn man von den anderen eingeschätzt wird, besonders wenn es viele sind, die da schätzen. Wird es auch gerecht zugehen? Bei demokratischen Wahlen wurde schon so mancher abgestraft.

Foto: Matjaz Slanic auf istockphoto

Hackordnung oder Vertrauenshierarchie?

Eine Demokratie bringt nicht den Erben oder den Monarchen in die Führungsrolle, sondern den Beliebtesten, Kompetentesten, denjenigen, von dem die Wähler sich am meisten versprechen. Auch in einem Team verteilt man Verantwortung und Positionen am besten nach der Sozialkompetenz, zum Beispiel nach der Fähigkeit zu führen, zu moderieren oder der Fähigkeit, konstruktiv zusammenzuarbeiten – insbesondere nach dem Vertrauen, das jemand genießt. ap

Auf alle Fälle sollte es ein Ordnungsgefüge geben. Dies sollte aber keine Hackordnung sein, bei der jeder genau weiß, auf wem er herumhacken kann und bei wem er lieber vorsichtig ist. Die Hackordnung sollte durch eine Vertrauenshierarchie ersetzt werden, bei der jeder weiß, wem er in welcher Hinsicht vertrauen kann. Auch die Vertrauenshierarchie zeichnet sich durch Rangunterschiede aus: Je mehr Menschen einem Teammitglied vertrauen, desto höher ist dessen Rang in der Sozialstruktur.

Ganz anders sehen es viele Praktiker, die davon geprägt sind, dass in der Geschäftswelt Anpassung und Konkurrenz den Ton prägen. Die Autorin Hedwig Kellner beschreibt dies recht eindrücklich in ihrem Buch:

Dass sich in jedem Team, in jeder Gruppe ganz automatisch eine „Hackordnung“ bildet, mit einem Wortführer oder Trendsetter an der Spitze,
lässt sich gar nicht umgehen. Ebenso wenig lässt sich vermeiden, dass jedes Team sein Fußvolk von Mitläufern und Duckmäusern hat.
Wo die einen im Team ihre persönliche Chance sehen, sich durchzusetzen und Einfluss zu nehmen, da lassen andere sich einwickeln. Brav machen sie alles mit, was die Mehrheit beschließt. Niemals würden sie so egoistisch sein, von anderen etwas zu fordern oder ihnen einmal ein klares Nein entgegenzustellen. Das einzige, was diesen armen Menschen bleibt, ist der Stolz auf ihre „Teamfähigkeit“, die Beruhigung, dass sie mit jedem gut auskommen. 
Weiter bringen es natürlich diejenigen, die nicht davon abhängig sind, stets von allen gemocht zu werden. Wer es schafft, auch einmal unbeliebt zu sein, sich nicht ständig der Masse anzugleichen und den Dreisten unterzuordnen, der erobert nicht nur eine höhere Position in der „Hackordnung“, der kommt auch in der offiziellen Machtstruktur des Unternehmens weiter.

Hedwig Kellner:
Die Teamlüge – Von der Kunst, den eigenen Weg zu gehen

Sozialstruktur ist kein Tabu im Training

Zum Schwierigsten in einem neu zusammengestellten Team beziehungsweise Trainingsteam gehört es, Einigkeit über die Sozialstruktur herzustellen. Man wagt es kaum, darüber zu sprechen, wen man wie einschätzt.
In einem team-dynamischen Training ist die Sozialstruktur aber kein Tabu. Da sollte das Team keine Angst davor haben, Rangfolgen klarzustellen. Wer sagt an? Wer hört auf wen? Wer hält sich an wen? Wer sollte vor wem Respekt haben? Wer geht mit wem in die Pause? Natürlich sind es in den Trainings immer nur die Rangfolgen des Moments, denn es geht um den Austausch, wie er in der aktuellen Situation möglich ist.

Es stellt einen gewissen Höhepunkt dar, wenn in einer rituellen Prozedur jeder einen eindeutigen Rangplatz erhält. Dann soll Ruhe einkehren, das Geschnatter soll weniger werden. Die gegenseitigen Überbietungsversuche sollen aufhören.
Unterschwellige Konkurrenz soll offener Kooperation weichen. – Wie macht man das nun, wo doch soziale Kompetenzen wie Empathie, Selbstbewusstsein, Teamfähigkeit, Führungsfähigkeit nun einmal nicht messbar sind? Wir brauchen wie beim Song-Contest eine Jury, die ihren Eindruck ganz einfach in ja und nein umsetzt. Diese Jury ist da und sie ist bereit: Es ist das ganze Team, das aufgerufen wird zur
team- dynamischen Wahl: Jeder darf wählen und jeder darf gewählt werden.

Der Umgang mit der aktuellen Sozialstruktur ist eine der markantesten Übungssequenzen in team-dynamischen Trainings. Die Offenlegung der Struktur bringt die Selbstreflektion bei den Teilnehmern stark in Bewegung.

Die aktuelle Sozialstruktur abzustimmen kann im team-dynamischen Workshop immer nur exemplarisch behandelt und geübt werden. Jeder
Mensch gehört mehreren sozialen Systemen an und hat in diesen ganz unterschiedliche Plätze. Man kann den Platz, den man in dem einen Sozialsystem innehatte, nicht in ein anderes mitnehmen. Wer also an seinem Arbeitsplatz ganz oben steht, kann beim Tanzwettbewerb durchaus jemand sein, der einen niedrigen Rang belegt. Und wer beim 100-Meter-Lauf als Letzter durchs Ziel keucht, kann durchaus jemand sein, der beim Schachturnier einen der vorderen Plätze erringt. Und wer in einem Team neu ist, darf sich nicht wundern, wenn er erst einmal hinten anfängt. ap

Mario Neumann

Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.