Im Auge des Sturms
Ein Projektleiter verfügt meistens über keine oder nur wenig Erfahrung, um ein Projekt aus der Krise zu führen. Um im Auge des Sturms handlungsfähig zu bleiben, hilft es, eine Vorgehensweise zu kennen, an der man sich „entlanghangeln“ kann. Der hier vorgestellte Prozess lässt sich in die vier Abschnitte Analyse, Planung, Verhandlung und Neustart gliedern.
Das Projektteam traut seinen Augen nicht: Während des Probelaufs ist die Fertigungsanlage buchstäblich auseinandergeflogen. Vom Prototypen ist kaum noch etwas zu retten. Projektleiter Markus K. blickt in die ratlosen Gesichter seines Teams: Keiner weiß, was als nächstes zu tun ist. Noch am gleichen Tag tritt die Geschäftsführung zusammen, um über die Situation zu beraten. Die Sitzung verläuft turbulent. Markus K. muss heftige Kritik einstecken. Es fallen harte Worte. Eine sachliche Diskussion scheint unmöglich zu sein. Vor allem aber: Eine Antwort, wie man Krise bewältigen könnte, hat niemand.
Die Krise ist oft Höhe- und Wendepunkt einer dramatischen Entwicklung. Das Projekt ist aus dem Gleichgewicht geraten. Als Projektleiter siehst Du Dich mit Ereignissen und Umständen konfrontiert, die sich mit vertrauten Denk- und Handlungsmustern nicht mehr bewältigen lassen. Eine gefährliche Situation: Manche Projektleiter verfallen auf dem Höhepunkt der Krise in eine Art Schockstarre, andere stürzen das Projekt mit kopfloser Hektik vollends ins Chaos.
Eine Projektkrise erfordert Führungshandeln. Es kommt darauf an, unter Zeitdruck das Projekt neu aufzusetzen. Dazu gehört, mit allen relevanten Stakeholdern wichtige Entscheidungen und Vereinbarungen aushandeln.
Analyse – Wahrheit, nichts als die Wahrheit
Die Lage analysieren – das ist die erste Aufgabe, um den Turnaround einleiten zu können. „Wo stehen wir wirklich?“ lautet deshalb die Frage, mit der Du Dich an alle Beteiligten wendest. In Einzelgespräche mit Teammitgliedern ebenso wie mit Vertretern relevanter Interessensgruppen beleuchtest Du die wesentlichen Bereiche der bisherigen Projektarbeit. Alles gehört auf den Prüfstand.
Sicher: Es ist ein mühsames Geschäft, aus einem Dickicht an Schuldzuweisungen, Rechtfertigungen und Geheimniskrämerei die Fakten herauszukristallisieren. Doch nur wenn die wirklichen Ursachen der Krise auf dem Tisch liegen, sind klare Schlussfolgerungen, eine systematische Lösung und ein erfolgversprechender Neustart überhaupt möglich.
Nur selten stürzen äußerliche Gründe wie etwa Lieferengpässe oder Qualitätsmängel bei Dienstleistern ein Projekt in die Krise. Meistens liegen die Ursachen im Projekt selbst. Zum Beispiel rächen sich frühe Versäumnisse in der operativen Umsetzung des Projekts. Das können eine unklare Zieldefinition, eine mangelhafte Planung, fehlende Kommunikation oder ignorierte Risiken sein.
Wichtig: Die Krise kann auch strategische oder politische Ursachen haben. Dazu zählen beispielsweise strategische Fehlentscheidungen bei der Wahl von Lösungsalternativen oder politischer Widerstand in Veränderungsprojekten. Im Unterschied zur operativen Krise lässt sich eine strategische und politische Krise nicht allein projektintern lösen, etwa indem Sie das Projekt mit Ihrem Team neu auflegen.


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Planung – Alles zurück auf Anfang
Der Analyse folgt die Stunde Null: Die gesamte Planung wird „zurückgesetzt“ und ein neuer Projektplan ausgearbeitet. Die neue Ausgangslage ist der Status quo, der als Ist-Zustand festgelegt wird. Auf diese Weise lässt sich der Planungsrückstand, der in der Krise immer vorhanden ist und sich auf alle Beteiligten psychologisch fatal auswirkt, erst einmal zu beseitigen.
Für Projektkrisen gibt es nur sehr selten eine Lösung aus dem Rezeptbuch. In aller Regel kommst Du nicht umhin, jede einzelne Lösungsmöglichkeit methodisch zu erarbeiten. Zugleich tickt die Uhr: Die Zeit, das Projekt zu retten, ist begrenzt. Als Projektleiter stehst Du unter dem Druck, die Analyse zügig auszuwerten, mögliche Optionen zu durchdenken und einen ersten Maßnahmenkatalog zu entwickeln. Auftraggeber, Mitarbeiter, Partner und Kunden wollen schnell erste, ermutigende Erfolge sehen („Quick Wins“).
Wichtig: Behandle das neu gestartete Projekt wie ein neues Projekt! Die bislang angefallenen Kosten und verbrauchten Ressourcen sind abgehakt und dürfen bei der Neuplanung keine Rolle spielen. Natürlich nutzt Du die im früheren Projektverlauf erreichten Teilergebnisse – sofern sie verwendbar sind. Ihre Gültigkeit sollte explizit hinterfragt werden.
Verhandlung – Jetzt heißt es Farbe bekennen
Häufig erfordert der Turnaround eines Projekts zusätzliche Ressourcen und ein höheres Budget. Zum Beispiel kann es erforderlich sein, das Projektteam zu verstärken, externe Dienstleister hinzuzuziehen, Aufgaben umzuverteilen oder Mitarbeiter in der Linie zu entlasten. Auch eine Verlängerung der Projektlaufzeit kann sinnvoll sein, wenn sich damit der Abbruch des gesamten Projektes vermeiden lässt.
All das erfordert zahlreiche Gespräche und Verhandlungen. Als Projektleiter kommt Dir die Aufgabe zu, die verschiedenen Lösungsalternativen mit dem Auftraggeber bzw. Kunden zu erörtern. Ziele, Umfänge, Ressourcen und Zeitvorgaben müssen neu ausgehandelt werden. Jetzt zeigt sich, wie ernst es dem Auftraggeber oder dem Kunden ist, den Turnaround mitzutragen – denn ohne sein Commitment ist eine grundlegende Kehrtwende kaum möglich.
Wichtig: Kommuniziere intensiv mit allen relevanten Personen und Gremien! Nur so kann das Projekt die notwendige Unterstützung erfahren, ohne die eine Neuausrichtung nicht möglich ist.
Neustart – Mit Vollgas aus der Krise
Nun kann das Projekt neu starten. Zunächst gilt es, im Projektteam für Aufbruchstimmung zu sorgen. Eine bewährte Möglichkeit: Zieh Dich mit Deinem Team zu einem zweitägigen Kickoff-Workshop in eine ruhige Umgebung zurück. Mit einer Mischung aus Teamübungen und Planungsarbeit lässt sich ein neues Wir-Gefühl schaffen.
Zugleich dient der Kickoff-Workshop dazu, die Ziele zu erläutern, den Mitarbeitern Orientierung zu geben und gemeinsam die nächsten Schritte zu planen. Der offene Austausch über die Ziele und das gemeinsame Planen stärkt den Zusammenhalt im Team und schafft neues Selbstvertrauen, mit dem das Team den Weg aus der Krise antritt.
Wichtig: Mit dem Neustart sollten Schlüsselpositionen neu besetzt werden. Damit verbunden ist das Signal, dass nicht nur „Bauern“ geopfert werden, sondern die Krise aktiv angegangen wird. Zudem können neue Mitarbeiter unbelastet an die Aufgaben herangehen. Sie müssen sich nicht rechtfertigen und bringen frischen Wind in das Projekt. Viele Projektbeteiligte empfinden den Austausch von Schlüsselpersonen als den entscheidenden Wendepunkt in der Krise.
Survival-Tipps
- Trotz Druck von außen: Nimm Dir Zeit für eine sorgsame Analyse. Andernfalls ist die Gefahr groß, dass der Neustart misslingt und das Projekt endgültig scheitert.
- Setze Deine gesamte Planung zurück. Lege den Status Quo als Ist-Zustand fest. Von dieser „Stunde Null“ aus startest Du mit einem neuen Plan.
- Definiere eindeutige Abbruchkriterien für Dein Projekt. So vermeidest Du ein übermäßig langes Vorantreiben des Projekts ohne echten Turnaround.
- Handle Ziele, Ressourcen und Zeitvorgaben neu aus. Ohne das Commitment des Auftraggebers bzw. Kunden ist eine grundlegende Kehrtwende kaum möglich.
- Trotz der gebotenen Eile: Setze Prioritäten und lass keine falsche Hektik aufkommen. Andernfalls leidet die disziplinierte Arbeit im Team.
- Achte auf erneute Krisensignale. Forciere den Dialog mit den Beteiligten, denn der enge Kontakt entscheidet mit über den Erfolg der Krisenrettung.


Mario Neumann
Als Autor und Trainer begleite ich Dich durch die abenteuerliche Welt der Projekte. Dafür wurde ich schon mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Internationaler Deutscher Trainingspreis und dem Weiterbildungs-Innovationspreis. Alle meine Bücher, Seminare und Vorträge findest Du auf marioneumann.com.